Kein Beschwerderecht der StA gegen die Entscheidung des Richters über den Umfang der Gewährung der
Akteneinsicht.

OLG Celle, Beschluss v. 26.08.2016 – 1 Ws 415/16
StPO § 147 Abs. 4 S. 2

I. Das Problem

Die Entscheidung hat die in der Praxis ebenso wichtige wie kontrovers diskutierten Fragen zum Umgang mit TKÜ-Daten zum Gegenstand. Das „Bedürfnis“ der Strafjustiz, der Verteidigung Akteneinsicht in die Aufzeichnungen der Telefonüberwachung zu erschweren, kann rechtlich nicht überzeugen. Zu diesem Problem nimmt Dr. Meyer unter Ziff. V. und VI. Stellung.

Formal beschäftigt sich der 1. Senat des OLG Celle lediglich mit der Frage, ob die Staatsanwaltschaft entgegen § 147 Abs. 4 S. 2 StPO ein Beschwerderecht gegen die Entscheidung des Vorsitzenden hat, Akteneinsicht auch in die TKÜ-Daten zu geben. Hierzu scheint es einen „Hauskampf“ beim OLG Celle zu geben. Zuletzt mit Beschluss vom 5.7.2016 hat der 2 Senat beim OLG Celle die Zulässigkeit der Beschwerde durch die Staatsanwaltschaft bejaht (StraFo 2016, 516).

Die Begründung des 2. Senats ist rechtlich wenig überzeugend und offenbart ein einer Stelle die wahren Beweggründe.

„Anders als der Angekl. und sein Verteidiger, die gegebenenfalls im Rahmen eines Revisionsverfahrens eine unzulässige Beschränkung gemäß § 338 Nr. 8 StPO geltend machen können, ist der Staatsanwaltschaft eine solche revisionsrechtliche Überprüfung zum Nachteil des Angeklagten versagt.“

Es geht also nicht um die vielbemühten Rechte Dritter, die es zu schützen gilt, sondern um eine bewußte Informationsbeschränkung zum Nachteil der Angeklagten.

Und damit sind wir wieder beim ersten Problemkreis.

Alle vorgeschobene Gründe für die Verweigerung der „umfassenden“ Akteneinsicht werden im Aufsatz von Wettley/Nödling (Akteneinsicht in Telekommunikationsdaten, NStZ 2016, 633) demontiert.

II. Zur Ausgangslage

Den Angeklagten werden Verbrechen gegen das BtMG zur Last gelegt und sie befinden sich in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft Hannover übersandte nach Anklageerhebung an das Landgericht Hannover vier externe Festplatten. Das auf den Festplatten gespeicherte Gesamtdatenvolumen von insgesamt etwa 4,9 Terabyte bezog sich insbesondere auf das Ergebnis diverser TKÜ- sowie Observationsmaßnahmen, die während der Ermittlungen über mehrere Monate durchgeführt worden waren. Nach dem Eingang der Festplatten verwies der Vorsitzende die Verteidiger zunächst auf die Einsichtnahmemöglichkeit in den Dienst-räumen des Landgerichts, woraufhin die Verteidigung beantragte, ihr gespiegelte Dateien in geeigneter Form zu überlassen. Darauf entschied der Vorsitzende – vorbehaltlich des Ausgangs eines staatsanwaltschaftlichen Beschwerdeverfahrens – entsprechende Festplatten mit gespiegelten Daten an die Verteidigung herauszugeben. Erwartungsgemäß erhob die zuständige Staatsanwaltschaft eine von der Generalstaatsanwaltschaft mitgetragene Beschwerde, die mit Beschluss des OLG Celle vom 26.08.2016 als unzulässig zurückgewiesen wurde. Daraufhin stellte das Gericht der Verteidigung die gespiegelten Daten zur Verfügung.

III. Zum Sachverhalt

Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2016 beantragte der Verteidiger des Angeschuldigten C. C., Rechtsanwalt N., ihm die auf den Festplatten befindlichen Dateien in geeigneter Form zur Einsichtnahme in seiner Kanzlei zur Verfügung zu stellen.

Hieraufhin stellte der Vorsitzende mit Entscheidung vom 29. Juli 2016 fest, dass er beabsichtige, Doppel der vorgenannten vier Festplatten zu erstellen und diese den Verteidigern im Falle eines Antrages zur Einsichtnahme in die dortigen Geschäftsräume zu übersenden.

Es wird den Verteidigern aufgeben, diejenigen Dateien, welche Beweisstücke enthalten, weder zu vervielfältigen, noch diese in der ihnen übersandten Form den Beschuldigten oder dritten Personen zu überlassen oder den vorgenannten Personen in ihrer Abwesenheit Einsicht zu gewähren. Dies begründete der Vorsitzende in Form einer Abwägung der im vorliegenden Einzelfall betroffenen Interessen.

Er gewährte der Staatsanwaltschaft Hannover jedoch Gelegenheit zur Stellungnahme, ob in begründeten Einzelfällen einzelne Dateien von der Übersendung in die Geschäftsräume  auszunehmen seien, und setzte hierfür eine Frist bis zum 5. August 2016.

Gegen diese Entscheidung des Vorsitzenden richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hannover vom 2. August 2016.

Zur Begründung führt sie aus, dass die Überlassung der Dateien in die Kanzleiräume der Verteidiger den Eingriff in die Grund-rechte unbeteiligter Dritter vertiefen würde. Die Daten seien dann der Kontrolle der Staatsanwaltschaft entzogen und diese könnte der ihr gem. § 101 Abs. 8 Satz 1 StPO übertragenen Löschungspflicht nicht mehr nachkommen.

Die Überlassung sei auch nicht aufgrund des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen und der Grundsätze eines fairen Verfahrens geboten, weil die Verteidigung bereits seit Erhalt des elektronischen Aktendoppels am 16. Februar 2016 gewusst habe, dass Telekommunikation überwacht und Video-aufzeichnungen angefertigt wurden. Obwohl der Verteidigung seit diesem Zeitpunkt bekannt gewesen sei, dass hierzu notwendigerweise Aufzeichnungen vorliegen müssen, hätten sich die Verteidiger nicht um eine Einsichtnahme bemüht. Daher müsse es ausreichen, die Dateien in den Räumen der Justizbehörden einsehen zu können.

Der Vorsitzende half der Beschwerde nicht ab und legte die Sache dem Senat zur Entscheidung vor.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft die Entscheidung des Vorsitzenden vom 29. Juli 2016 aufzuheben.

IV. Aus den Gründen

Die Beschwerde ist unzulässig.

Die Entscheidung des Vorsitzenden über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht unterliegt gem. § 147 Abs. 4 Satz 2 StPO keiner Anfechtung.*

* Hanseatisches OLG, Beschluss vom 27.5.2016 – 2 Ws 88/16 -, zitiert nach juris; OLG Frankfurt, StV 2016, 148; vgl. a. schon OLG Stuttgart NStZ-RR 2013, 217; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., Rn 32 zu § 147.

Nach § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Nach Satz zwei dieser Vorschrift ist die Entscheidung nicht anfechtbar. Dieser Ausschluss der Anfechtbarkeit bezieht sich entgegen verbreiteter Rechtsprechung* nicht allein auf Rechtsmittel des Angeklagten, sondern statuiert eine allgemeine Regelung, die auch Beschwerden  der Staatsanwaltschaft erfasst.

* vgl. OLG Celle, 2. Strafsenat, Beschluss vom 5. Juli 2016 – 2 Ws 11/16; OLG Celle, 2. Strafsenat, NStZ 2016, 305; Hanseatisches OLG, Beschluss vom 16.2.2016 – 3 Ws 11-12/16 -, zitiert nach juris; OLG Nürnberg, StraFo 2015, 102; OLG Karlsruhe, NJW 2012, 2742; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 5.4.2007 – 1 Ws 42-43/07 -, zitiert nach juris; KG, NStZ-RR 2016, 143; OLG Frankfurt, NJW-Spezial
2014, 25.

1. Für dieses Verständnis streitet zunächst der Wortlaut der Vorschrift. Diese differenziert gerade nicht nach möglichen Anfechtungsberechtigten.

Auch der systematische Zusammenhang der Vorschrift belegt nichts Gegenteiliges. Zwar bezieht sich der Anfechtungsausschluss auf den vorgenannten Antrag des Verteidigers. Da die Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht stets einen entsprechen-den Antrag voraussetzt, kann aus dem Zusammenspiel der beiden Sätze jedoch nicht der Ausschluss der Anfechtbarkeit nur für den Angeklagten hergeleitet werden (so aber OLG Celle, a.a.O.).

Bei dieser Bewertung braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob die auf den Festplatten befindlichen Dateien als Beweisstücke* oder – wozu der Senat tendiert – als sonstige  Aktenbestandteile einzuordnen sind**.

* BGH NStZ 2014, 347; OLG Nürnberg, Beschluss wistra 2015, 246; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 2 Ws 146/12 -, zitiert nach juris.

** so auch OLG Stuttgart in OLGSt § 58a Nr. 1; Pfeiffer § 147 Rn. 6; offen lassend OLG Celle, Beschluss vom 24. Juli 2015 – 2 Ws 116/15 – auszugsweise abgedruckt in NStZ 2015, 305; Hanseatisches OLG, Beschluss vom 16. Februar 2016 – 3 Ws 11-12/16 -; Hanseatisches OLG Beschluss vom 27. Mai 2016 – 2 Ws 88/16.

Denn nach Wortlaut und Wortsinn erfasst der Ausschluss der Anfechtbarkeit gem. § 147 Abs. 4 Satz 2 StPO sowohl die Entscheidung, ob die fraglichen Gegenstände dem Verteidiger in seine Kanzleiräume übersandt werden, als auch auf die regelmäßig damit zusammentreffende Bewertung heraus-gegebener Sachen als Beweisstücke oder sonstige Aktenbestandteile.

2. Die anerkannten juristischen Auslegungsmethoden streiten ebenfalls nicht für ein Anfechtungsrecht der Staatsanwaltschaft, sondern bestätigen das vorgefundene Ergebnis:

a) Die historische Auslegung lässt nicht den Schluss auf ein vom Gesetzgeber intendiertes Anfechtungsrecht der Staatsanwaltschaft zu. In der Begründung des Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes heißt es zu § 147 Abs. 4 Satz 2 StPO lediglich:

„Die richterliche Entscheidung über einen Antrag nach Abs. 4 soll nicht mit der Beschwerde (§ 304) angefochten werden können. Hat der Staatsanwalt im vorbereitenden Verfahren entschieden, so wird die Möglichkeit, dagegen Dienstaufsichtsbeschwerde einzulegen, durch Abs. 4 Satz 2 nicht eingeschränkt“

(BT-Drucksache 4/178, Seite 32.)

Aus dieser knappen Begründung lassen sich somit keine Hinweise auf den Willen des historischen Gesetzgebers zur Begründung eines Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft gewinnen.

b) In gleicher Weise sind keine systematischen, aus einem Vergleich mit strukturell ähnlich gelagerten Regelungen der Strafprozessordnung erkennbaren, Gründe für einen nur partiellen Anfechtungsausschluss erkennbar. In diesem Zusammenhang ist § 406e StPO in den Blick zu nehmen. Durch diese Vorschrift, die durch das erste Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren am 1. April 1987 eingefügt wurde, wird das Akteneinsichtsrecht des durch die Straftat Verletzten geregelt. § 406e Abs. 3 StPO wiederholt hier wortgleich die Regelung des § 147 Abs. 4 StPO, mit der einzigen Ausnahme, dass dort statt von dem „Verteidiger“ von dem „Rechtsanwalt“ die Rede ist. In der Begründung dieser Vorschrift heißt es:

„Wird diese Entscheidung von einem Gericht getroffen, so besteht für ein Rechtsmittel kein zwingender Grund; im Interesse der Verfahrensökonomie soll die Entscheidung unanfechtbar sein“

(BT-Drucksache 10/5305, Seite 18.)

An dieser Stelle hat der Gesetzgeber damit unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht, dass dem Interesse der Verfahrensökonomie Vorrang vor einer umfassenden Rechtskontrolle durch Etablierung eines Instanzenzuges eingeräumt wird.

c) In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass ein Instanzenzug von Verfassungs wegen nicht vorausgesetzt* und auch nicht vom Fairnessgebot in Strafsachen  gem. Art. 6 EMRK gefordert wird**.

* BVerfGE 65, 76 (90); 96, 27 (39); 104, 220 (231); Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Lfg. 48, Stand November 2011, Art. 103 Rn. 26; Degenhart in: Sachs, Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 103 Rn. 48.

** BVerfGE 118, 212, (235).

Aus der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Wohnraumüberwachung ergibt sich nichts anderes, weil dort allein die Verpflichtung zur Einschaltung eines Gerichts statuiert wird (BVerfGE 109, 279, Rn. 199-201).

Der Überlassung der Dateien in die Kanzlei-räume der Verteidiger geht nach § 147 Abs. 4 StPO die Entscheidung des Vorsitzenden des Spruchkörpers voraus. Damit ist ein Richtervorbehalt installiert. Hierdurch wird der Schutz der Rechte der von einer Telekommunikationsüberwachung oder der Videographie einer Observation zufällig Drittbetroffenen wirksam gewährleistet. Für eine Kontrolle dieser richterlichen Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft besteht vor dem Hintergrund der vorstehenden Erwägungen keine Notwendigkeit. Insbesondere kann die Erforderlichkeit einer solchen Kontrollmöglichkeit nicht aus § 101 Abs. 8 StPO hergeleitet werden (a.A. OLG Celle, a.a.O.). Durch diese Norm wird die Staatsanwaltschaft lediglich strikt zur Löschung der bei ihr vorrätigen, zur Strafverfolgung und für eine etwaige gerichtliche Überprüfung der Maßnahme nicht mehr erforderlichen personenbezogenen Daten verpflichtet. Eine weitergehende Ermächtigung, für eine umfassende Einhaltung dieser Vorschrift hinsichtlich solcher Daten Sorge zu tragen, die Dritten rechtmäßiger Weise überlassen werden, besteht dagegen nicht (vgl. Knauer/Pretsch, NStZ 2016, 307).

In diesem Zusammenhang ist zudem zu berücksichtigen, dass dem Verteidiger auch im Falle der Inaugenscheinnahme der Dateien in Räumen der Justizverwaltung das Recht zusteht, Aufzeichnungen zu fertigen oder Lichtbilder herzustellen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 147 Rn. 19 m.w.N.). Daher wäre auch in diesem Falle die Beeinträchtigung der Rechte Dritter durch Verbreitung der Daten niemals völlig auszuschließen.

Daraus folgt, dass für eine verfassungs-konforme Auslegung des § 147 Abs. 4 Satz 2 StPO dahingehend, dass der Anfechtungsausschluss nicht für die Staatsanwaltschaft wirkt (vgl. OLG Celle, 2. Strafsenat a.a.O.), kein Anlass besteht.

d) Schließlich fordert auch die Symmetrie der Anfechtungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft mit denen des Angeklagten keine Rechtsmittelbefugnis der erstgenannten. Im Falle der Statthaftigkeit einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft wäre diese vielmehr gegenüber dem Angeklagten deutlich bevorzugt. Während die Beschwerde nach
§ 304 StPO keinen formalen Beschränkungen unterliegt, kann der Angeklagte die unterlassene Übersendung der Dateien in die Kanzleiräume seines Verteidigers nur mittels der – äußerst strengen Anforderungen unter-liegenden – Revisionsrüge nach § 338 Nr. 8 StPO angreifen (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 11.2.2014 – 1 StR 355/13).

Im Übrigen belegt zum Beispiel die Norm des § 339 StPO, dass die Strafprozessordnung auch sonst nicht von einem Gleichlauf der Anfechtungsmöglichkeiten von Angeklagtem und Staatsanwaltschaft ausgeht. So versagt diese Vorschrift der Staatsanwaltschaft, eine Revision zu Ungunsten des Angeklagten nur auf die Verletzung solcher Rechtsnormen zu stützen, die nur in dessen Interesse gegeben sind. Dort geht somit die Anfechtungsmöglichkeit des Angeklagten weiter als die der Staatanwaltschaft.

V. Anmerkung

So sehr die Entscheidung des Vorsitzenden der Strafkammer im Einzelfall erfreulich gewesen ist, so sehr steht dessen ungeachtet zu befürchten, dass mit der Celler Entscheidung einer bedenklichen Entwicklung in der obergerichtlichen Rechtsprechung bei der Frage der Herausgabe von TKÜ-Daten nicht Einhalt geboten wird.

Sowohl das Oberlandesgericht Nürnberg als auch das Oberlandesgericht Celle haben nämlich bereits 2015 entschieden, dass kein Anspruch des Angeklagten besteht, die im Rahmen einer Telekommunikationsüberwachung aufgezeichneten TKÜ-Daten an die Verteidigung zu treuen Händen in deren  Büroräume zu übergeben*

* vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 11.02.2015 -2 Ws 8/15 [StraFo 2015, 102]; OLG Celle, Beschluss vom 24.07.2015 – 2 Ws 116/15 [NStZ 2016, 315].

Nach Ansicht des Oberlandesgerichts Nürnberg gebe die Regelung des § 147 Abs. 4 S. 1 StPO nicht nur keinen Anspruch des Verteidigers auf Herausgabe derartiger Daten, sondern stelle (entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs) sogar ein Verbot für die Herausgabe der Daten dar.

Auch wenn das Oberlandesgericht Celle bei der Frage des Verbotes (wohl) eine gemäßigtere Auffassung vertritt, sind sich die Oberlandesgerichte in beiden Entscheidungen einig, dass ein „abstraktes Missbrauchsrisiko“ in der Sphäre der Verteidigung sowie Persönlichkeits- und Datenschutzrechte Dritter einer Herausgabe der Daten an die Verteidiger entgegensteht. Darüber hinaus verweist das Oberlandesgericht Celle im Beschluss vom 24.07.2015 ausdrücklich auf eine bestehende Darlegungspflicht der Verteidigung, wieso das Besichtigungsrecht nicht ausreichend sein soll.

Die beiden Oberlandesgerichte meinen offensichtlich, sich nach dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 11.02.2014 (1 StR 355/15 [BGH NStZ 2014, 347]) bei der restriktiven Auslegung des Einsichts-/ Besichtigungsrechts auf der sicheren Seite zu wissen. Danach unterliegen aufgezeichnete Daten einer Telekommunikationsüberwachung zwar insgesamt dem Recht auf Akteneinsicht und Besichtigung gemäß § 147 Abs. 1 StPO, jedoch beschränkt sich das Recht bei Tonaufzeichnungen wegen ihrer Qualität als Beweisstücke (des Augenscheins) nach § 147 Abs. 4 S. 1 i. V. m. § 147 Abs. 1 StPO „auf die Besichtigung am Ort ihrer amtlichen Verwahrung“.

Einschränkend verweist der 1. Strafsenat jedoch auf Ausnahmefälle, in denen die bloße Besichtigung zu Informationszwecken nicht ausreichend sein könnte, weswegen „im Einzelfall“ zur Gewährleistung einer angemessenen Verteidigung und eines fairen Verfahrens ein Anspruch auf Anfertigung und Überlassung einer Kopie begründbar sein könnte (vgl. BGH a. a. O.).

Der 1. Strafsenat hat mit seiner Entscheidung aus dem Jahr 2014 letztendlich mit der verteidigerfreundlichen Rechtsprechung des 3. Strafsenats (Urt. v. 18.06.2009 – 3 StR 89/09 [StV 2010, 228]) gebrochen, wonach der 3. Strafsenat im Rahmen eines obiter dictums zumindest noch eine beachtliche Verletzung des Akteneinsichtsrechts bei verspäteter Hergabe von TKÜ Daten angenommen hat.

Es musste nicht viel Zeit vergehen, bis die vom 1. Strafsenat im Jahr 2014 aufgestellten Entscheidungsgrundsätze (Augenscheinseinnahme von TKÜ Daten am Ort ihrer amtlichen Verwahrung) in der obergerichtlichen Rechtsprechung implementiert  wurden*

* vgl. OLG Nürnberg a.a.O., OLG Celle a.a.O.; vgl. auch Wettley/Nöding NStZ 2016, 633 m.w.N. zur aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung.

Allerdings zeichnet sich in der jüngsten tatrichterlichen Praxis eine Entwicklung ab, doch vermehrt von Möglichkeit einer „Einzelfallregelung“ Gebrauch zu machen, die nach der Entscheidung des 1. Strafsenats (entgegen OLG Nürnberg) eine Herausgabe kopierter Dateien in begründeten Ausnahme-fällen zulässt. Infolgedessen konnte auch das OLG Celle im Jahr 2016 seine im Jahr 2015 entstandene Rechtsprechung fortentwickeln, wonach nunmehr (entgegen der Celler Entscheidung im Jahr 2015) der Staatsanwaltschaft ein Beschwerderecht gegen entsprechende, „verteidigerfreundliche“ Entscheidungen aberkannt worden ist, die Daten in gespiegelter Form herauszugeben (vgl. ebenso HansOLG Hamburg StraFo 2016, 344).

VI. Konsequenzen für die Praxis

An der eigentlichen Problematik hat sich auch nach den jüngst ergangenen Entscheidungen zur Zulässigkeit einer staatsanwaltschaftlichen Beschwerde nichts geändert. Vielmehr bleibt es dabei, dass sich die Verteidigung bei der Frage, ob TKÜ-Dateien herausgegeben werden können, mit dem generell formulierten Vorwurf einer „Missbrauchsgefahr“ auseinanderzusetzen hat. Die Verteidigung muss sich dementsprechend fortgesetzt die Frage stellen, wie man sich in der Praxis gegenüber dem abstrakt/generell formulierten, fortbestehen-den Vorwurf der anwaltschaftlichen Unzuverlässigkeit verhält.

Gegen den Einwand eines bloßen Besichti-gungsrechtes von Beweisstücken verhält sich das HansOLG Hamburg im Beschluss vom 27.05.2016 – 2 Ws 88/16 (StraFo 2016, 344 f.), wonach es sich bei Kopien von Audiodateien im Gegensatz zu Originaltonaufzeichnungen (vgl. hierzu Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 634) um sogenannte „sonstige Aktenbe-standteile“ mit der Folge eines Aktenein-sichtsrechts handelt. Folglich ist bei der Duplizierung von Daten eine Substanz-gefährdung des originären Beweismittels oder gar ein vollständiger Beweismittel-verlust ausgeschlossen.

Der weitere Einwand der Unzuverlässigkeit eines ganzen Berufsstandes im Sinne eines abstrakten Missbrauchsrisikos wiegt schwer und definiert eine vornehme, aber auch dringliche Aufgabe der Verteidigung, auf die Zurücknahme dieses („erstaunlichen“) Vorwurfs mit Nachdruck hinzuwirken.

Die Verteidigung ist zuverlässig – auch als Organ der Rechtspflege. Immerhin wird ein staatlich gebundener Vertrauensberuf mit amtsähnlicher Stellung ausgeübt (vgl. Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 635 m. w. N.). Deswegen erhält die Verteidigung seit Jahrzehnten völlig problemlos zur Wahrung einer effektiven Jurisprudenz die Ermittlungs-akten im Original gem. § 147 Abs. 1, Abs. 4 StPO zu treuen Händen. Nichts anderes kann und darf für die Kopien von Telekommunika-tionsaufzeichnungen gelten.

Überdies wird (spätestens) in der Hauptver-handlung Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen, dass die Gewährung einer in Augenscheinnahme „am Ort ihrer amtlichen Verwahrung“ eine ordnungsgemäße, sach-gerechte sowie „waffengleiche“ Durchfüh-rung der Verteidigung geradezu unmöglich macht. Eine detaillierte Dokumentation der anwaltlichen Verteidigungsarbeit und die dadurch offenbarte Unmöglichkeit der vollständigen Kenntnisnahme eröffnet weitergehende Möglichkeiten (z.B. Frist-verlängerungsanträge gemäß § 201 StPO im Zwischenverfahren sowie Aussetzung des Verfahrens in der Hauptverhandlung).

Und schlussendlich ist (nicht nur in der Tatsacheninstanz) der Anspruch aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 b EMRK einzufordern, wonach bei Gewährung des Akteneinsichts-rechts und des Rechts auf Besichtigung amtlich verwahrter Beweisstücke der Verteidigung auch in zeitlicher Hinsicht ausreichende Gelegenheit gegeben werden muss, in die Akten und Beweismittel Einblick nehmen zu können (vgl. EGMR, Urteil vom 12.03.2003 – 46221/99 „Öcalan ./. Turkey“ Abs. 166-169). Unweigerlich stellt sich die Frage, ob die vom 1. Strafsenat im Jahr 2014 aufgestellten Grundsatze einer Überprüfung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Stand hielten.

Resümierend bleibt festzuhalten, dass mit der Entscheidung des OLG Celle vom 26.08.2016  die Entscheidungsbefugnis des Vorsitzenden zwar gestärkt worden ist, jedoch Verteidi-gungsrechte – insbesondere das Recht aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 b EMRK – nach wie vor empfindlich ausgehöhlt werden können.

Unter Hinweis auf den Grundsatz der Verfahrensfairness bemerken Wettley/Nöding (a.a.O., 639) völlig zu Recht: „Wenn die Strafverfolgungsbehörden zum Zwecke der Strafverfolgung Daten generieren, so kann nachfolgend der Umgang mit diesen Daten nicht zu Lasten der Verteidigung beschränkt werden“.

Hier gilt es für die Verteidigung, „Flagge zu zeigen“ und für uneingeschränkte Beschuldigtenrechte zu kämpfen.

Dr. Jürgen Meyer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Verden

Darstellung des Problems und Bearbeitung der Entscheidung:

Sascha Petzold, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, München

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