Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 27.10.2016 – 1 Ws 439/16

I. Vorbemerkung von Kreysa

Andreas Kreysa, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, VorsRiLG a.D., Erfurt

Disziplinierung der Anwaltschaft?

Eine außergewöhnliche Äußerung des Strafsenates des Thüringer Oberlandesgerichts und eine darauf hin erfolgte noch erstaunlichere Reaktion der Thüringer Justizverwaltung haben in betroffenen Anwaltskreisen eine – vorsichtig formuliert – erhebliche Irritation hervorgerufen.

Was hat sich zugetragen?

In einer Haftsache mit mehreren Beschuldigten hatte es die Geschäftsstelle der Strafkammer  des Landgerichts verabsäumt, den Verteidigern die Anklage zu übermitteln. Diese rügten das am ersten der zahlreichen mit ihnen abgestimmten Hauptverhandlungs-termine, woraufhin der Vorsitzende die Hauptverhandlung aussetzte und den nächsten der bereits festgesetzten Termine aufhob.

Im Rahmen der Haftfortdauerprüfung nach den §§ 121, 122 StPO ordnete der Strafsenat trotz der eingetretenen Verzögerung Haftfortdauer an. Zugleich übte er an dem Verteidigerverhalten massive Kritik. Das Verhalten der Verteidiger, konkret die unterlassene Bemühung, die Anklage zu erhalten und die Rüge der fehlenden Anklageübersendung erst in der Hauptverhandlung, sei verantwortungslos und stelle ein unangemessenes Verhalten dar, das dem Leitbild des Berufsstandes nicht entspreche. Das Unterlassen des eigenen Bemühens um die Anklageschrift könnte nur als bemerkenswerte anwaltliche Pflichtverletzung eingestuft werden. Weitere Beiordnungen des betreffenden Anwalts seien in Frage zu stellen. Der Anwalt habe als Organ der Rechtspflege im Interesse des inhaftierten Mandanten keine Umstände zu bewirken, die eine Verfahrensverzögerung mit sich brächten.

Damit nicht genug. Anscheinend durch den Senatshinweis bemüßigt, übersandte die Justizverwaltung den OLG Beschluss – zumindest in Auszügen – an die Gerichte des Bezirks. Dies hat mindestens ein Amtsgericht* zum Anlass genommen, in einem Fall, der mit dem Ausgangsfall nicht das Geringste zu tun hatte, die beantragte Beiordnung des  betroffenen Verteidigers unter ausdrücklicher Nennung des OLG Beschlusses abzulehnen.

* siehe AG Rudolstadt, Beschluss vom 12.12.2016 – 455 Js 14744/14 1 Ls; im Heft Seite 43.

Der Anwalt, so das Amtsgericht, biete für eine sachgerechte und ordnungsgemäße Verteidigung keine ausreichende Gewähr. Seine Beiordnung sei nicht zu verantworten.

Folgende Fragen drängen sich auf:

1. Liegt überhaupt eine anwaltliche Pflichtverletzung vor?

2. War der Strafsenat befugt, das Vorliegen einer anwaltlichen Pflichtverletzung festzustellen?

3. War die Justizverwaltung befugt, den OLG Beschluss zu verteilen?

Zu 1. (Liegt überhaupt eine anwaltliche Pflichtverletzung vor?)

In Betracht kommt ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot gemäß § 43a Abs. 3 BRAO. Da wird es schon schwierig. Die in § 43a Abs. 3 Satz 2 BRAO besonders hervorgehobenen Fallgruppen der bewussten Verbreitung von Unwahrheiten oder der Kundgabe herabsetzender Äußerungen kommen offenkundig nicht in Betracht. Zu prüfen bleibt der allgemeine Anwendungsbereich unsachlichen Verhaltens in § 43a Abs. 3 Satz 1 BRAO.  Insoweit haben sich Fallgruppen herausgebildet.*

* vgl. hierzu Geier. Wolf. Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, § 43a BRAO Rd. 59 ff..

Hier könnte man an die Fallgruppe des „Missbrauchs verfahrensrechtlicher Befugnisse“ denken. Das wäre etwa dann der Fall, wenn der Verteidiger verfahrensfremde Zwecke verfolgt hätte. Nun mag man darüber streiten, ob die mit dem Vertagungsantrag des Verteidigers eingetretene Verfahrensverzögerung ein verfahrensfremder Zweck ist. Hierauf kommt es nicht an. Der OLG Senat wirft dem Verteidiger nicht die Rüge fehlender Anklageübersendung vor, sondern den späten Zeitpunkt des Anbringens dieser Rüge.

Der Vorwurf des Senats bezeichnet ausdrücklich kein Verteidigerhandeln, sondern ein Verteidigerunterlassen als Pflichtverletzung. Nämlich das Unterlassen, sich rechtzeitig um den Erhalt der Anklageschrift zu bemühen.

An dieser Stelle gerät die – ohnehin nur apodiktisch formulierte – Argumentation des Senats in ein deutliches Begründungsdefizit. Eine Unterlassung kann nur dann pflichtwidrig sein, wenn den Betreffenden eine Pflicht zum Handeln trifft (Rechtsgedanke aus § 13 StGB). Hierzu schweigt der OLG Beschluss. Dies aus gutem Grund, weil eine solche Pflicht nicht existiert.

Eine Handlungspflicht aus Gesetz gibt es im vorliegenden Fall nicht. Die BRAO postuliert eine ganze Reihe von Pflichten, deren Verletzung hier offenkundig nicht in Betracht kommt. Ergänzend weist die Berufsordnung dem Rechtsanwalt eine ganze Reihe von Pflichten zu (bspw. § 14 BORA: unverzügliche Erteilung und Rücksendung des Empfangsbekenntnisses). Auch dort wird man nicht fündig.

Es bleibt die allgemeine Pflicht als „Organ der Rechtspflege“. Hierzu existiert eine umfangreiche Judikatur. So heißt es beispielhaft in einer Entscheidung des OLG Hamburg vom 17.11.1997 (NStZ 1998, 586 ff.) dass es die Pflicht aller Verfahrensbeteiligter sei, das Strafverfahren effektiv zu fördern. Diese Pflicht treffe auch den Verteidiger. Der Auftrag des Verteidigers liege nicht ausschließlich im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in der am Prinzip des Rechtsstaats ausgerichtete Strafrechtspflege.

Möglicherweise hatte der Senat den vorzitierten Beschluss der Hamburger Kollegen vor Augen, als er seine Verteidigerschelte formulierte. Die Lektüre ist dann allerdings unvollständig geblieben. Das Hanseatische OLG Hamburg betont, dass der Verteidiger sich nicht in identischem Maße wie Gericht und Staatsanwaltschaft an der Verfahrens-förderung zu beteiligen hat. Dies deshalb, weil er einseitig die Interessen des Beschuldigten zu beachten hat und in diesem Zusammenhang  das Recht des Beschuldigten, sich umfassend verteidigen zu können ausübt. Es sei mithin eine Abwägung zwischen den Aufgaben des Verteidigers als Beistand des Beschuldigten einerseits und der allgemeinen Verfahrensförderungspflicht vorzunehmen.

Um eine solche Abwägung hat sich das Thüringer OLG nicht einmal ansatzweise bemüht. Die apodiktisch angestellte Erwägung, durch die Verfahrensverzögerung könne sich sogar die U-Haft verlängern, erscheint mehr als blauäugig. Der Verteidiger wird seine Verhaltensweise nicht ohne Absprache mit seinem Mandanten vorgenommen haben. Die durch das Gericht bzw. die Geschäftsstelle der Kammer primär verursachte Verfahrensverzögerung ist selbstredend geeignet, die Frage der prozessordnungs-gemäßen Verfahrensbeschleunigung und damit die Haftfortdauerfrage zu eröffnen. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des Verteidigers, die fehlende Anklage-übersendung erst am ersten Hauptverhandlungstag zu rügen, nachgerade „goldrichtig“.

Zu 2. (War der Strafsenat befugt, das Vorliegen einer anwaltlichen Pflichtverletzung festzustellen?):

Aber selbst wenn man das anders sehen wollte, überschreitet der Strafsenat seine Befugnisse doch mit Deutlichkeit. Ob im vorliegenden Fall eine anwaltliche Pflichtverletzung vorlag oder nicht, war für die Haftfortdauerentscheidung ohne Belang. Die Entscheidung wäre auch ohne die entsprechenden Passagen begründbar gewesen.

Über die Verletzung anwaltlicher Berufspflichten entscheidet die Anwaltskammer, § 74 BRAO. Hiergegen kann Antrag auf anwaltsgerichtliche Entscheidung gestellt werden, § 4a BRAO.

In gravierenderen Fällen formuliert die Generalstaatsanwaltschaft, § 120 BRAO, eine Anschuldigungsschrift, § 130 BRAO, zum Anwaltsgericht, § 121 BRAO.

Der Strafsenat des Oberlandesgerichts kommt in diesem System an keiner einzigen Stelle vor! Die Kompetenzüberschreitung des Senats ist evident.

Zu 3. (War die Justizverwaltung befugt, den OLG Beschluss zu verteilen?):

Hier wird es ganz konfus.

Gemäß § 13 EGGVG dürfen Gerichte personenbezogene Daten unter ganz bestimmten Voraussetzungen übermitteln, insbesondere wenn der Betroffene eingewilligt hat oder eine besondere Rechtsvorschrift dies vorsieht oder zwingend voraussetzt.

Dass der betroffene Kollege seine Einwilligung gegeben hat, wird man kaum annehmen können.

Spezialgesetzliche Regelungen greifen sämtlich nicht ein. § 36 Abs. 2 BRAO bspw. befasst sich mit der Veröffentlichung von Zulassungsentscheidungen oder mit dem Erlöschen der Mitgliedschaft in einer Anwaltskammer etc.. Das liegt hier offenkundig nicht vor.

Die  Mitteilungsvorschrift in EGGVG betreffend Strafsachen, § 14 EGGVG, befasst sich nur mit den Daten des Beschuldigten, nicht mit Daten seines Verteidigers.

§ 17 EGGVG erlaubt schließlich die Datenübermittlung, wenn sie zur Verfolgung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten für Zwecke der internationalen Rechtshilfe, zur Abwehr erheblicher Nachteile für das Gemeinwohl oder einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit, zur Abwehr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechte einer anderen Person oder zur Abwehr einer erheblichen Gefährdung Minderjähriger erforderlich ist. Alle diese abschließend aufgeführten Fälle liegen hier offensichtlich nicht vor.

Unter keinem denkbaren Gesichtspunkt war die Justizverwaltung befugt, den evident falschen OLG-Beschluss im Gerichtssprengel zu verteilen.

Résumé:

Der OLG Senat und die Justizverwaltung haben mit der Begründung des Haftfortdauerbeschlusses und seiner Verbreitung sich selbst und der Rechtspflege in Thüringen einen Bärendienst erwiesen. Die Rechtsanwälte, konkret die Verteidiger sind gut beraten, sich gegen künftige Entgleisungen vergleichbarer Art mit Vehemenz zur Wehr zu setzen.

II. Die Entscheidung

In dem Ermittlungsverfahren gegen XXX … wegen XXX

hat der 1. Strafsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena durch Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Zoller, Richterin am Oberlandesgericht Schade und Richterin am Amtsgericht Klameth am 27.10.2016

beschlossen:

1. Die Fortdauer der Untersuchungshaft wird angeordnet.

2. Die nächste Haftprüfung nach § 122 Abs. 4 StPO findet statt am

Donnerstag, XXX

3. Bis dahin wird die Haftprüfung nach § 117 Abs. 1 StPO dem nach den allgemeinen Bestimmungen dafür zuständigen Gericht übertragen (§ 122 Abs. 3 Satz 3 StPO).

Zum Sachverhalt

Der Angeklagte H befindet sich seit seiner vorläufigen Festnahme am 25.02.2016 in die­ser Sache in Untersuchungshaft, und zwar aufgrund eines am 24.02.2016 erlassenen Haftbe­fehls des Amtsgerichts Gera, welcher am 26.02.2016 durch das Amtsgericht Gera verkündet wurde. Der Vollzug der Untersuchungshaft war unterbrochen durch die Vollstreckung einer Er­satzfreiheitsstrafe in anderer Sache (960 VRs 475 Js 20082/15) vom 30.03.2016 bis 25.05.2016.

In dem auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl vom 24.02.2016 wird dem Ange­klagten schwerer Raub in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung ge­mäß §§ 250 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. und Nr. 3 lit. b), 223 Abs. 1,224 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. und Nr. 5,25 Abs. 2, 52,53 StGB vorgeworfen. Konkret werden ihm folgende Sachverhalte zur Last gelegt:

Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitraum vor dem 20.09.2015 soll der Angeklagte sich mit mindestens drei weiteren Personen, u, a. dem betäubungsmitteiabhängigen Mit-angeklagten S B, dem Mitangeklagten R K sowie der – ebenfalls betäubungs-mittelabhängigen – gesondert Verfolgten A B zu einer Bande zusammengeschlossen haben, um in Jena und Umgebung fortgesetzt von Betäubungsmittelkonsumenten unter erheblicher Gewaltanwen­dung und mittels Verwendung gefährlicher Gegenstände Betäubungsmittel, Bargeld und sonstige stehlenswerte Gegenstände zu entwenden („abzuziehen“), um diese für sich zu verwenden bzw. selbst zu konsumieren.

Aufgrund dieser generellen Bandenabrede soll der Angeklagte in der Nacht vom 20.09.2016 auf den 21.09.2016 in Zeitz gemeinsam mit dem Mitangeklagten B und der gesondert Verfolgten B zulasten des Geschädigten H und am 25.10.2015 in Jena gemeinsam mit den Mitangeklagten B und K zu Lasten der Geschädigten R, N und Z jeweils einen gemeinschaftlich begangenen schweren Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangen haben. Wegen der Tatvorwürfe im Einzelnen wird auf den Inhalt des Haftbe­fehls vom 24.02.2016 verwiesen.

Wegen dieser (und anderer) Tatvorwürfe hat die Staatsanwaltschaft Gera unter dem 07.06.2016 Anklage gegen den Angeklagten sowie die Mitangeklagten B, K und J erhoben und beantragt, Haftfortdauer anzuordnen. Dem Angeklagten H wurde durch die Anklage­schrift der Staatsanwaltschaft Gera vom 07.06.2016 darüber hinaus zur Last gelegt, im Zeitraum zwischen dem 15.10.2015 und dem 04.11.2015 gemeinsam mit der gesondert Verfolgten B einen schweren Raub gemäß § 250 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. StGB sowie im Zeitraum zwischen dem 25.09.2015 bis 11.12.2015 und in einem weiteren Fall zwischen dem 11.12.2015 und dem 21.12.2015 Urkundenfälschung in zwei tatmehrheitlichen Fällen tateinheitlich jeweils mit vorsätzli­chem Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz begangen zu haben.

Durch Anklage vom 22.06.2016 (ursprüngliches Aktenzeichen 850 Js 18736/16) wurde dem An­geklagten H ferner vorgeworfen, im Zeitraum zwischen dem 18.01.2016 und dem 31.01. 2016 eine Urkundenfälschung und einen Verstoß gegen das Pflichtversicherungs-gesetz sowie am 31.01.2016 gegen 00:53 Uhr ein vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis begangen zu haben. Die Anklageschrift wurde am 07.07.2016 unter gleichzeitiger Benachrichtigung des Verteidi­gers gemäß § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO zugestellt. Durch Beschluss vom 25.07.2016 wurde das Verfahren mit dem Verfahren 850 Js 4183/16 verbunden.

Nach Eingang der Anklage vom 07.06.2016 in dem Verfahren 850 Js 4183/16 veranlasste die Kammervorsitzende mit Verfügung vom 14.06.2016 die förmliche Zustellung der-zuvor zu über­setzenden Anklageschrift – an die Angeklagten sowie die jeweilige formlose Übersendung einer Abschrift der Anklage an die Verteidiger mit dem Zusatz: „Die In die russische Sprache übersetz­te Anklageschrift ist dem Angeschuldigten zugestellt worden mit Frist zur Äußerung von zwei Wochen“

Entsprechend dem – allerdings undatierten – Erledigungsvermerk (Bd. II Bl. 376 d. A.) zu dieser Verfügung wurde die übersetzte Anklageschrift den Angeklagten zugestellt, dem Angeklagten H spätestens am 01.08.2016.

Mit Verfügung vom 05.07,2016 (Bd. Ill, Bl. 391) teilte die Kammer die in Betracht kommenden Ver­handlungstermine mit und forderte die Verteidiger zur Stellungnahme auf, an welchen dieser Tage terminiert werden könne. Als erster Verhandlungstag wurde der 08.08.2016 vorgeschlagen.

Durch Verfügung vom 26.07.2016 wurde dem Verteidiger des Angeklagten J Aktenein­sicht für drei Tage gewährt; die am 28.07.2016 übersandte Akte gelangte allerdings erst nach Mahnung am 11.08.2016 wieder zu Gericht.

Mit Verfügung vom 11.08.2016 fasste die Kammer im Rahmen eines Vermerks die Terminslage zusammen und stellte fest, dass aufgrund bereits terminierter anderer Verfahren, des Urlaubs und anderweitiger Gebundenheit der Verteidiger und des Sachverständigen der Beginn der Haupt­verhandlung nicht vor dem 10.10.2016 erfolgen könne. Als nunmehr verbindlich vorgesehene Ter­mine wurden mitgeteilt: 10.10., 24.10., 04.11., 07.11, 21.11,25.11,0112., 05.12., 07.12., 09.12., 12.12., 14.12, und 16.12.2016.

Mit Beschluss vom 01.09.2016 ordnete der Senat im Verfahren der besonderen Haftprüfung be­treffend den durch Rechtsanwalt Pinkes vertretenen Angeklagten K unter näherer Darstellung des Verfahrensstandes die Haftfortdauer an.

Durch Beschluss vom 20.09.2016 ließ das Landgericht die Anklagen der Staatsanwaltschaft Ge­ra vom 07.06.2016, vom 22.02.2016 sowie weitere – den Angeklagten H nicht betreffende Anklagen – zu und eröffnete das Verfahren vor dem Landgericht Gera – 11. Strafkammer. Darüber hinaus wurde die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeklagten (sowie der Mitangeklagten, soweit inhaftiert) angeordnet, da die Gründe, die zum Erlass des Haftbefehls geführt hätten, an­dauerten. Eröffnungsbeschluss und Terminsladung wurden den Verteidigern förmlich zugestellt, dem Verteidiger des Angeklagten H am 26.09.2016.

Nachdem der Verteidiger des Mitangeklagten B mit Schriftsatz vom 05.10.2016 mitgeteilt hatte, dass ihm die Anklageschrift bislang nicht zugegangen sei, wurde ihm unverzüglich per Fax eine Abschrift übersandt.

Im Hauptverhandlungstermin am 10.10.2016 beantragte der Verteidiger des Angeklagten K vor Verlesung der Anklageschrift, „den Eröffnungsbeschluss gemäß § 33 a StPO für gegen­standslos zu erklären“, da das Verfahren wieder in den Stand des Zwischenverfahrens zurück zu versetzen sei. Die Anhörungsrüge sei begründet, da zumindest dem Verteidiger des Angeklagten K die Anklageschrift nicht zugestellt worden sei und dieser hierzu keine inhaltlichen Erklärun­gen abgeben könne.

Die Verteidiger der Angeklagten B, H und J schlossen sich diesem Antrag durch Erklärung zu Protokoll an.

Nachdem die mit der Ausführung der richterlichen Verfügung vom 14.06.2016 (Zustellung der An­klageschrift und Bekanntgabe an die Verteidiger) beauftragte Mitarbeiterin der Geschäftsstelle aufgrund Erkrankung nicht zu deren vollständiger Ausführung befragt werden konnte, setzte das Landgericht die Hauptverhandlung mit Beschluss vom 10.10.2016 aus und räumte den Angeklag­ten und ihren Verteidigern, denen zuvor jeweils (nochmals) Ausfertigungen der sie betreffenden Anklageschriften (u. a. der vom 07.06,2016) übergeben worden waren, Gelegenheit zur Stellung­nahme bis 18.10,2016 ein. Gleichzeitig gab die Vorsitzende bekannt, dass die bereits abgespro­chenen Termine ab dem 04.11,2016 für die neue Hauptverhandlung genutzt werden sollen.

Letzteres wurde den Verteidigern nochmals mit Verfügung vom 11.10.2016 mitgeteilt, die Termi­ne ab dem 04.11.2016 als verbindlich bezeichnet und eine Reihe weiterer möglicher Fortset­zungstermine im Januar und Februar vorgeschlagen. Gleichzeitig wurden die Akten dem Senat zur besonderen Haftprüfung betreffend den Angeklagten H vorgelegt,

Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat unter dem 17.10.2016 beantragt, Haftfortdauer an­zuordnen und die weitere Haftprüfung gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 StPO für die nächsten 3 Mona­te dem gemäß § 126 StPO zuständigen Gericht zu übertragen.

Hierzu haben der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

Aus den Gründen

Da der Angeklagte sich mit Ablauf des 21.10.2016 seit sechs Monaten in Untersuchungshaft be­findet, hatte der Senat gemäß § 122,121 StPO über die Frage der Haftfortdauer zu entscheiden.

1.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeklagten H ist gerechtfertigt.

Der Angeklagte ist nach dem Ergebnis der Ermittlungen der ihm in dem Haftbefehl vom 24.02.2016 vorgeworfenen Taten dringend verdächtig.

Der dringende Tatverdacht ergibt sich insbesondere aus den Angaben der gesondert Verfolgten B sowie der Zeugen R, S, N, Z. Auf die Ausführungen in der Ankla­geschrift vom 07.06.2016, auf die dort benannten Beweismittel sowie die dortigen Erörterungen zum wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen wird Bezug genommen.

2.

Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.

Der geschiedene und auch sonst über keine (bekannten) stabilen sozialen oder beruflichen Bin­dungen in Deutschland verfügende Angeklagte hat im Falle seiner Verurteilung wegen gleich meh­rerer im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bedrohter Verbrechen nach § 250 Abs. 2 StGB mit der Verhängung einer mehrjährigen und jedenfalls nicht mehr bewährungsfähi­gen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen. Hieraus ergibt sich ein massiver Fluchtanreiz, dem keine in der Person oder den Lebensumständen des Angeklagten liegenden Umstände hinreichend wirksam entgegen wirken.

3.

Eine Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls gemäß § 116 StPO kommt nicht in Betracht, weil der Zweck der Untersuchungshaft durch mildere Maßnahmen nicht erreicht werden kann. Insbe­sondere angesichts der beträchtlichen Straferwartung besteht keine ausreichende Vertrauens­grundlage für eine Haftverschonung.

4.

Die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft (§112 Abs. 1 Satz 2 StPO) ist in Anbetracht der zu erwartenden erheblichen (Gesamt-)Freiheitsstrafe, die voraussichtlich die Dauer der bisher vollzogenen Untersuchungshaft deutlich übersteigen wird, gewahrt.

Das Verfahren ist auch in der für Haftsachen erforderlichen Weise gefördert worden. Der Um­fang und die besonderen Schwierigkeiten des Verfahrens haben bislang ein Urteil nicht zugelas­sen (§ 121 Abs. 1 StPO).

Für das Verfahren bis zum 01.09.2016 hat der Senat dies bereits in dem den Mitangeklagten K betreffenden Verfahren 1 Ws 362/16 durch Beschluss vom 01.09.2016 festgestellt. Daran hat sich zwischenzeitlich nichts geändert. Die zuständige Strafkammer hat am 20.09.2016 über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden und zunächst einen – frühzeitig abgestimmten – Verhandlungsbeginn bereits am 10.10.2016 – also weniger als 1 Monat nach der Eröffnung – vor­gesehen.

Wegen der Ermittlungshandlungen und des Verlaufs des Verfahrens im Einzelnen wird auf die dem Angeklagten und seinem Verteidiger zur Kenntnis gegebenen Ausführungen der Thüringer Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 17.10.2016 verwiesen.

Die im Anschluss an die nach Beginn der Hauptverhandlung von dem Verteidiger des Angeklagten K erhobene Anhörungsrüge – der sich neben dem Verteidiger des Angeklagten H auch die weiteren Verteidiger angeschlossen haben – am 10.10.2016 erfolgte Aussetzung der Hauptverhandlung führt zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung, zumal die hierdurch entste­henden Verzögerungen durch ein letztlich als verantwortungslos zu bezeichnendes, dem gesetz­lichen Leitbild ihres Berufsstandes unangemessenes Verhalten der Verteidiger der Angeklagten K und H – und damit durch einen außerhalb der Sphäre des Gerichts liegenden, nicht vorhersehbaren Umstand – zumindest mitverursacht sind.

Zum einen ist absehbar, dass die Aussetzung der Hauptverhandlung wegen der begleitenden Maßnahmen der Kammer zur Wahrung und Nutzung der langfristig abgestimmten weiteren Ter­mine nicht zu einer wesentlichen Verzögerung des Verfahrens führen wird. Bereits mit Verfügung vom 11.10.2016 hat die Vorsitzende den Verteidigern die Aufrechterhaltung der Hauptverhand­lungstermine ab dem 04.11.2016 – immerhin noch 11 Termine in den verbleibenden 2 Monaten des Jahres 2016 – verbindlich mitgeteilt und zudem weitere 11 mögliche Termine bis Ende Febru­ar 2017 in Aussicht gestellt.

Zum anderen stehen der damit geplanten kurzfristigen Erneuerung der Hauptverhandlung auch keine rechtlichen Gründe entgegen. Auch ungeachtet der bislang nicht abschließend geklärten Frage, ob die Anklageschrift vom 07.06.2016 entgegen dem Erledigungsvermerk tatsächlich nicht an die Verteidiger versandt wurde, ist eine – durch die Kammer veranlasste – Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht ersichtlich, so dass die Verteidigung mit der gemäß § 33a StPO erhobe­nen Anhörungsrüge nicht durchdringen wird.

Zwar ist der gemäß § 210 Abs. 1 StPO einer Anfechtung durch den/die Angeklagten entzogene Eröffnungsbeschluss eine Entscheidung, auf die das Verfahren nach § 33a StPO Anwendung fin­det (vgl. KG, Beschl. v. 12.03.2007,1 AR 227/07 m, w. N.). Allerdings ist den Angeklagten die An­klageschrift jeweils zugestellt worden, und zwar in einer ihnen verständlichen Sprache und mit ausreichender Frist zur Stellungnahme. Selbst wenn den Verteidigern trotz entsprechender rich­terlicher Verfügung versehentlich keine Abschriften übersandt worden sein sollten, stellt dies kei­ne Verletzung des rechtlichen Gehörs der Angeklagten dar, die den Bestand des Eröffnungsbe­schlusses berühren könnte. Gemäß § 201 Abs. 1 StPO Ist die Anklageschrift dem Angeschuldigten mitzuteilen. Hat der Angeschuldigte zu diesem Zeitpunkt bereits einen Verteidiger, ist es zwar entsprechend § 145a Abs. 3 StPO regelmäßig geboten, den Verteidiger über die Zustellung an den Angeschuldigten zu unterrichten und ihm eine Abschrift der Anklage zu übermitteln. Hierbei handelt es sich jedoch um eine bloße Ordnungsvorschrift (KK-Laufhütte/Willnow, StPO, 7. Aufl., § 145a Rdnr. 6), deren (hier erkennbar allenfalls versehentliche) Nichtbeachtung weder die Wirksamkeit einer etwa erforderlichen Zustellung berührt noch geeignet Ist, eine Verletzung des An­spruchs auf rechtliches Gehör zu begründen (vgl. etwa BVerfG, Besohl, v. 20.12.2001, Az. 2 BvR 1356/01; OLG Frankfurt, Besohl, v. 10.07.1990, Az. 2 We [B] 248/90 OWiG).

Hinzu kommt, dass dem Verteidiger des Angeklagten K – ebenso wie dem in der gleichen Kanzlei als Partner tätigen Verteidiger des Angeklagten H – selbstverständlich seit langem bekannt war, dass eine Ihren Mandanten bereits im Juli/August 2016 zugestellte Anklageschrift existierte, über deren Inhalt sie sich deshalb ohne weiteres rechtzeitig vor der Hauptverhandlung nicht nur hätten informieren können, sondern im Interesse ihrer Mandanten sowie zu einer ordnungs- und pflichtgemäßen Terminsvorbereitung informieren müssen. Rechtsanwalt Pinkes sind wesentliche Inhalte dieser Anklageschrift zudem bereits mit dem Senatsbeschluss vom 01.09.2016 „bekannt“ geworden, der ausführlich die seinen Mandanten betreffenden Tatvorwürfe darstellt und auch auf die Anklage vom 07.06.2016 verweist. Das – selbst nach Zugang des Eröff­nungsbeschlusses und der Terminsladung fortgesetzte – schlichte Unterlassen eines eigenen Bemühens um den Erhalt der vollständigen Anklage (durch bloßen Hinweis auf die unterbliebene Bekanntgabe) kann deshalb nur als bemerkenswerte anwaltliche Pflichtverletzung eingestuft wer­den, die Anlass geben kann, Jedenfalls künftige Beiordnungen dieses Rechtsanwalts als Pflicht­verteidiger grundsätzlich in Frage zu stellen.

Gemäß § 43 BRAO hat der Rechtsanwalt als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Ach­tung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen. Dazu gehört, dass der Verteidiger sich – vor allem in einem so umfangreichen Strafverfahren wie dem vorliegenden – sorgsam auf die Hauptverhandlung vorbereitet. Im Interesse seines Mandan­ten hat er Umstände, die in seiner Sphäre liegen und das Verfahren verzögern können, nicht schuldhaft herbei zu führen. Dies gilt um so mehr, wenn sich der Mandant bereits mehrere Mona­te in Untersuchungshaft befindet. Wenn der Verteidiger – trotz fragloser Kenntniserlangung von Anklageerhebung und Terminierung zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt – erst in der Haupte Verhandlung rügt, dass ihm eine Anklageschrift nicht zugegangen sei, dann provoziert er mutwillig deren Aussetzung, mindestens aber eine Verzögerung des Verfahrens – und damit u. U. die Ver­längerung der gegen den Mandanten (und weitere Mitangeklagte) angeordneten Untersuchungs­haft. Ein solches Verhalten ist mit einer gewissenhaften Ausübung des Anwaltsberufs nicht in Ein­klang zu bringen.

Gleichwohl hat die Kammer den Verteidigern auf deren Antrag nochmals die Gelegenheit einge­räumt, zur Anklageschrift Stellung zu nehmen. Dagegen ist aus Sicht des Senats nichts einzuwenden, zumal die Kammer gehalten war/ist, sich in aller gebotenen Sorgsamkeit mit der erho­benen Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO auseinanderzusetzen.

Der Senat hat deshalb in Übereinstimmung mit dem Antrag der Thüringer Generalstaatsanwalt­schaft gemäß § 122 Abs. 3, 4 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft für weitere 3 Monate beschlossen und bis zum Ablauf dieser Frist die Haftentscheidung dem nach den allgemeinen Vorschriften Gericht übertragen.

gez.

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