Vorlage an EuGH zur Vorabentscheidung; Verdachtsunabhängige Durchsuchung im Schengen-Grenzgebiet? Beweisverwertungsverbot?
Art. 267 AEUV, § 44 Abs. 2 BPolG, Schengener Grenzkodex
Inhaltsverzeichnis
Amtlicher Leitsatz:
Die Vorlage an den EuGH betrifft zum einen die Frage, ob § 44 Abs. 2 BPolG, welcher verdachtsunabhängige einer Suche im Grenzgebiet zu einem Schengenstaat zulässt, mit EU-Recht, insbesondere dem Schengen Codex, vereinbar ist, und zum anderen die Frage, ob bei einem Verstoß gegen EU-Recht ein Beweisverwertungsverbot im Strafverfahren hinsichtlich des durch die Durchsuchung aufgefundenen Beweismittels besteht.
AG Kehl, Entscheidung vom 22.4.2016 – 3 Cs 302 Js 10848/15
I. Das Problem
Die Entscheidung bietet 3 interessante Themen für Verteidiger:
- Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung
- Rechtswidrigkeit der Schleier-Grenz-Fahndung
- Beweisverwertungsverbot nach EU-Recht
1. Vorlage an EuGH zur Vorabentscheidung
Art. 267 AEUV (ex-Artikel 234 EGV)
Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorab-entscheidung
a) über die Auslegung der Verträge,
b) […],
Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.
Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.
Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der Gerichtshof innerhalb kürzester Zeit.
Eine Vorlage zum EuGH scheitert in der Regel nicht an Zulässigkeitshürden. Das Vorlagegericht muss einzig nachvollziehbar darstellen, dass die Frage entscheidungs-erheblich ist.
Das Größere Problem dürften die Motivationshürden der nationalen Gerichte sein. Der Wortlaut des Art 267 AEUV bietet ja auch eine schöne Ablehnungsmöglichkeit. Vorlagepflichtig sind allein die letztinstanzlichen Gerichte. Die Vorinstanzen sind lediglich vorlageberechtigt.
Die Strafverteidigung wird dem Instanzgerichte also ein möglichst ausgearbeiteten Entwurf vorlegen müssen, so dass zumindest arbeitsökonomische Gründe nicht greifen können.
Kaum diskutiert und ungeklärt ist die Frage, ob über den Wortlaut der Norm auch die unteren Instanzgericht zur Vorlage verpflichtet sein können. Gründe hierfür könnten im effet utile / Effizienzgebot des Europarechts liegen, oder nach nationalen Rechtsprinzipien das Ermessen des Gerichts gegen Null verschieben.
Es wird also Zeit, dass die Strafverteidigung diese Möglichkeit nutzt, um das richterliche Ignorieren europarechtlicher Normen zu unterbinden.
Spontan fällt hierzu z.B. ein:
- Grenznahe Kontrollen
- Europarechtlicher Arbeitnehmerbegriff bei § 266a StGB
- Haftbefehl bei EU-Ausländer
- Art und Weise der Dokumentation gem. § 168b Abs. 3 StPO
Literatur zum Einstieg:
- Bertelsmann, Durchsetzung der EU-Gleichbehandlungsrichtlinien: Das Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH, Institut für Menschenrecht
- Latzel/Streintz, Das richtige Vorabentscheidungsersuchen, NJOZ 2013, 97
- Calliess, Der EuGH als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes,
NJW 2013, 1905 - Kokott/Henze/Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen Ihrer Verletzung, JZ 2006, 633
2. Rechtswidrigkeit der Schleier-Grenz-Fahndung
Das AG Kehl zweifelt in seiner Vorlageentscheidung die Rechtmäßigkeit der grenznahen Durchsuchung gem. § 44 Abs. 2 BPolG an. Vergleichbare Eingriffsbefugnisse finden sich in einigen Landespolizeigesetzen.
§ 44 BPolG – Durchsuchung von Sachen
(1) Die Bundespolizei kann außer in den Fällen des § 23 Abs. 3 Satz 5 und Abs. 5 Satz 2 eine Sache durchsuchen, wenn […]
(2) Im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von dreißig Kilometern kann die Bundespolizei eine Sache auch zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet oder zur Verhütung von Straftaten im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 durchsuchen. Das in Satz 1 genannte Grenzgebiet erstreckt sich im Küstengebiet von der seewärtigen Begrenzung an bis zu einer Tiefe von 50 Kilometern; darüber hinaus nur nach Maßgabe der Rechtsverordnung zu § 2 Abs. 2 Satz 2.
Nach beachtenswerter Meinung spricht viel dafür – entgegen der wohl herrschenden Meinung, dass die Schleier-Fahndung, also verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrolle, gegen das Rechtsstattsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen und damit verfassungswidrig sind.*
* Rächer in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage 2012, E Rn. 377.
Dagegen sollen die grenznahen Kontrollen nicht gegen Verfassungsrecht verstoßen, da hier eine örtliche Sondersituation gegeben sei.*
* Rächer, a.a.O. Rn. 385.
Die grenznahen Kontrollen können aber europarechtswidrig sein, da sie gegen den Schengener Grenzkodex verstoßen.
Zu beachten ist zunächst, dass der Schengener Grenzkodex 2016 erneuert wurde.
- VERORDNUNG (EG) Nr. 562/2006 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES
- VERORDNUNG (EU) 2016/399 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES
Der EuGH hat hatte in seinem Urteil vom 22.6.2010, verbundene Rechtssachen C-188/10 und C-189/10, MELKI und ABDELI gegen Frankreich, entschieden, dass Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 SGK einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaates die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze dieses Staates zu den Vertragsstaaten des S. Durchführungsübereinkommens die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann.
Diese Entscheidung ist übertragbar auf diejenigen polizeigesetzlichen Regelungen, deren Zweckbestimmung unter anderem die Verhinderung der unerlaubten Einreise in die BRD ist, wie z.B. § 21 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW; Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 BayPAG; § 14 Abs. 1 Nr. 5 ThürPolG.*
* so Rächer, a.a.O., Rn. 388, noch zum „alten“ Schengen Grenzkodex.
Am 13. September 2015 hat die Bundesregierung die unbefristete Wiedereinführung der Grenzkontrollen beschlossen. Siehe dazu die Pressemitteilung des Bundesinnenministers.
Unklar ist, ob die Einführung von Grenzkontrollen auch die grenznahen Kontrollen legitimiert, insbesondere wenn der Sicherheitsanlass der Flüchtlingskrise nicht tangiert ist, weil Personen vor der Ausreise aus der BRD kontrolliert werden.
Darüber hinaus sind Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wiedereinführung der Grenzkontrollen angezeigt.
Nach dem Schengener Grenzkodex von 2006 galt hierfür Art 23 ff. des Kodex, der die Wiedereinführung von Grenzkontrollen
für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der schwerwiegenden Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet
erlaubte, nicht aber unbegrenzt.
Nunmehr gilt Art 25 des Schengener Grenzkodex von 2016:
(1) Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. Die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen darf in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist.
3. Europäisches Beweisverwertungsverbot
Unter Rn 12 ff. stellt das AG die Frage eines europäischen Beweisverwertungsverbotes zur effektiven Durchsetzung des Europarechts und einer einheitlichen Rechtsanwendung.
II. Die Entscheidung
1.) Tenor
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Artikel 267 Absatz 1 Buchstabe a, Absatz 2 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind Artikel 67 Absatz 2 AEUV sowie die Artikel 20 und 21 der Verordnung Nummer 562/2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (SGK, in der Folge: SGK) oder sonstige Regelungen der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaates die Befugnis einräumt, im Gebiet bis zu einer Tiefe von 30 km entlang der Landesgrenze dieses Mitgliedstaates zu den Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.06.1985 (Schengener Durchführungsübereinkommen) zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates oder zur Verhütung von bestimmten Straftaten, die gegen die Sicherheit der Grenze oder die Durchführung des Grenzschutzes gerichtet sind oder im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt begangen werden, eine Sache unabhängig vom Verhalten der diese Sache mitführenden Person und vom Vorliegen besonderer Umstände zu durchsuchen, ohne dass gemäß Artikel 23 ff. des SGK vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betroffenen Binnengrenze eingeführt wurden?
2. Für den Fall der Bejahung der Frage 1: Sind Artikel 67 Absatz 2 AEUV sowie die Artikel 20 und 21 der Verordnung Nummer 562/2006 SGK oder sonstige Regelungen der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, die es einem Strafgericht dieses Mitgliedstaats erlaubt, ein Beweismittel zulasten des Angeklagten zu verwerten, obwohl dieses Beweismittel durch eine staatliche Maßnahme erlangt wurde, die gegen Vorschriften der Europäischen Union verstößt?
II. Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Vorlagefragen ausgesetzt.
2.) Zum Sachverhalt
[1] Das Amtsgericht – Strafrichter – Kehl (im Folgenden: das Gericht) hat über einen Antrag der Staatsanwaltschaft Offenburg zu entscheiden, im Wege eines Strafbefehls gegen den Angeschuldigten eine Geldstrafe wegen eines Vergehens des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu verhängen.
[2] 1. Nach dem bisherigen Stand der Untersuchung ist im Vorabentscheidungsverfahren folgender Sachverhalt zu Grunde zu legen:
[3] Der Angeschuldigte, der türkischer Staatsangehörigkeit ist und in einem Vorort von Straßburg (Frankreich) wohnt, führte am 13.06.2015 gegen 11:00 Uhr am Busbahnhof Kehl, […] 3,75 Subutex-Tabletten mit einem Wirkstoffgehalt von 8 mg Buprenorphin pro Tablette wissentlich und willentlich mit, wobei er nicht die für den Umgang mit Betäubungsmitteln erforderliche Erlaubnis besaß. Der Angeschuldigte wurde ohne besonderen Anlass von Beamten der Bundespolizei kontrolliert, die bei einer Durchsuchung seiner mitgeführten Umhängetasche die Tabletten fanden.
[4] 2. Die Tat wäre strafbar als Vergehen des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln gemäß § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 Betäubungsmittelgesetz, der die Verhängung einer Kriminalstrafe in Form einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe vorsieht.
3.) Aus den Gründen
[5] Das Gericht hält die Beantwortung der Vorlagefragen zur Entscheidung über den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls für erforderlich. Es legt sie deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: der Gerichtshof) gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 AEUV zur Vorabentscheidung vor.
[6] Bei der Entscheidung über den Erlass des beantragten Strafbefehls hat das Gericht zu prüfen, ob ein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten besteht. Dies setzt voraus, dass eine Verurteilung mit den zur Verfügung stehenden Beweismitteln wahrscheinlich ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass unrechtmäßig erlangte Beweismittel einem Verwertungsverbot unterliegen können. Im vorliegenden Fall sind die bei der Durchsuchung der Tasche des Angeschuldigten aufgefundenen Subutex-Tabletten das einzige Beweismittel. Ein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten läge damit nicht vor, wenn dieses Beweismittel unrechtmäßig erlangt worden wäre (1.) und daraus ein Verbot der Verwertung im Strafverfahren folgen würde (2.).
[7] 1. Nach deutschem Recht wäre die Durchsuchung der Tasche rechtmäßig gewesen (a.). Fraglich ist für das Gericht aber, ob sie gegen das Recht der europäischen Union verstieß (b.).
[8] a) Die Beamten der Bundespolizei stützten die Durchsuchung der Tasche des Angeschuldigten auf § 44 Abs. 2 Bundespolizeigesetz (in der Folge: BPolG). Danach kann die Bundespolizei im Gebiet einer Landgrenze zu einem fremden Staat bis zu einer Tiefe von 30 km zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet oder zur Verhütung von Straftaten im Sinne des § 12 Absatz 1 Nummern 1 bis 4 BPolG eine Sache durchsuchen. Dabei sind Straftaten im Sinne des § 12 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4 BPolG solche Vergehen, die gegen die Sicherheit der Grenze oder die Durchführung der Aufgaben der Bundespolizei gerichtet oder den Grenzübertritt betreffen oder im unmittelbaren Zusammenhang mit diesem stehen. Eines besonderen Anlasses oder eines Tatverdachts gegen die Person, die die Sache mit sich führt, bedarf es nach dieser Vorschrift nicht. Die Durchsuchung wäre danach rechtmäßig erfolgt.
[9] b) Der Zulässigkeit der Kontrolle des Angeschuldigten, insbesondere die Durchsuchung seiner Tasche auf der Grundlage von § 44 Abs. 2 BPolG, könnte gegen das allgemeine Verbot von Kontrollen an Binnengrenzen des Schengenraums (Art. 67 Abs. 2 AEUV, Art. 20 und 21 SGK) verstoßen und damit rechtswidrig sein. Darauf bezieht sich die erste Frage des Gerichts an den Gerichtshof zur Auslegung des Rechts der Europäischen Union. Soweit für das Gericht ersichtlich, sind die mit diesem Vorabentscheidungs-ersuchen gestellten Fragen noch nicht vom Gerichtshof geklärt.
[10] (1.) Der Gerichtshof hat zwar in seinem Urteil vom 22.6.2010, verbundene Rechtssachen C-188/10 und C-189/10, MELKI und ABDELI gegen Frankreich, entschieden, dass Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 SGK einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaates die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze dieses Staates zu den Vertragsstaaten des S. Durchführungsübereinkommens die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann.
[11] (2.) Die erste Frage dieses Vorabentscheidungsersuchens betrifft aber nicht – nur – die Ermächtigung zur anlasslosen Überprüfung der Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen. Denn § 44 Abs. 2 BPolG dient seinem Wortlaut nach nicht nur der Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch der Verhütung von Straftaten. Insoweit wäre Art. 21 Buchst. a SGK, der unter bestimmten Bedingungen polizeiliche Befugnisse zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität unberührt lässt, zu beachten. In diesem Zusammenhang erscheint es für das Gericht insbesondere fraglich, ob es im Sinne des Art. 21 Buchst. a Nr. ii) SGK schon genügt, wenn die mögliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit bereits aus der Begehung von typischen Straftaten des Grenzübertritts, beispielsweise unerlaubte Einreise oder Einfuhr von verbotenen Gegenständen, herrührt, was im Ergebnis dazu führen würde, dass solche polizeiliche Maßnahmen immer zulässig wären.
[12] 2. Nach deutschem Recht würde in dem hier zu entscheidenden Fall trotz Rechtswidrigkeit der Durchsuchung kein Verbot der Verwertung des aufgefundenen Beweismittels bestehen (a.). Fraglich ist für das Gericht aber, ob das Recht der Europäischen Union ein solches Verwertungsverbot verlangt (b.).
[13] a) Das deutsche Strafverfahrensrecht kennt kein allgemeines aus der Rechtswidrigkeit der Erlangung des Beweismittels folgendes Beweisverwertungsverbot. Bis auf einige spezialgesetzliche Regelungen, die ausdrücklich ein Verwertungsverbot vorsehen (s. dazu die Übersicht bei Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 58. Aufl. 2015, Einl., Rn. 55), folgt aus einer fehlerhaften Beweiserhebung nicht immer ein Verwertungsverbot (vgl. BGH Urt. v. 21.2.1964 – 4 StR 519/63, NJW 1964, 1139). Vielmehr ist nach st. Rspr. des BVerfG und des BGH eine Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte des Einzelfalls und der widerstreitenden Interessen vorzunehmen, nämlich des Grundsatzes des deutschen Strafverfahrensrechts, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, und dem individuellen Interesse des von der rechtswidrigen Maßnahme Betroffenen (vgl. BVerfG Beschl. v. 19.9.2006 – 2 BvR 2115/01, NJW 2007, 499; BGH Beschl. v. 13.1.2011 – 3 StR 332/10, NJW 2011, 1827).
Ein Beweisverwertungsverbot stellt eine begründungsbedürftige Ausnahme dar, wobei es zumindest aber bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten ist (vgl. BVerfG Beschl. v. 9.11.2010 – 2 BvR 2101/09, NJW 2011, 2417).
Diese Rechtsprechungspraxis ist grundsätzlich mit der Europäischen Menschenrechts-konvention in der Folge: EMRK), insbesondere Art. 6, vereinbar (vgl. EuGH Urt. v. 12.7.1988 – 8/1987/183/182). Das von der Rspr. postulierte Regel-Ausnahme-Verhältnis wird von Teilen der Literatur kritisiert, die umgekehrt ein Beweisverwertungsverbot als Regel und für die Verwertung eines rechtswidrig gewordenen Beweises eine besondere Legitimation fordert (vgl. die Übersicht dazu bei Meyer-Goßner/Schmitt StPO, aaO). Nach Maßgabe der obergerichtlichen Rspr. bestünde somit in dem vom Gericht zu entscheidenden Fall kein Verbot der Verwertung der aufgrund der Durchsuchung der Tasche des Angeschuldigten sichergestellten Subutex-Tabletten als Beweismittel, auch wenn die Rechtswidrigkeit der Maßnahme aus einem Verstoß gegen das Recht der Europäischen Union herrührt.
[14] b) Wenn die Durchsuchung der Tasche des Angeschuldigten aber gegen die Vorgaben des Rechts der Europäischen Union verstößt und damit rechtswidrig war, stellt sich für die effektive Durchsetzung des Rechts der Europäischen Union und seiner einheitlichen Anwendung, insbesondere im Hinblick auf die möglicherweise in anderen Mitgliedstaaten bestehenden strengeren Regeln über die Möglichkeit der Verwertung rechtswidrig erlangter Beweismittel, die Frage, ob das Recht der Europäischen Union verlangt, dass Beweise, die unter Verstoß gegen das Recht der Europäischen Union erlangt wurden, in einem Strafverfahren nicht verwertet werden dürfen.
Soweit für das Gericht ersichtlich, hat der Gerichtshof diese Frage noch nicht – allgemein – beantwortet. Allerdings deutet beispielsweise das Urteil des Gerichtshof vom 10.4.2003 in der Rechtssache Steffensen (C-276/01) darauf hin, dass das Recht der Europäischen Union einen solchen Einfluss auf das Recht und die Praxis der Beweiserlangung und -verwertung in einem Mitgliedstaat haben kann. Darauf bezieht sich die zweite Vorlagefrage.
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