Sascha Petzold, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, München

I. Einleitung

Im Verteidigeralltag muss immer wieder festgestellt werden, dass viele Verteidiger und noch mehr Richter den Anspruch auf Erteilung einer (schriftlichen) Abschrift gem. § 35 Abs. 1 S. 1 StPO nicht kennen.

Hat man nach entsprechenden Antrag und Hinweis auf das Gesetz das Gericht endlich eingeladen, rechtliches Gehör iSd § 35 zu gewähren, vertrübt oft der Richterblick in den Besch’schen zu KurzKommentar zur StPO die Freude am Erkenntnisgewinn. Die dort enthaltenen Stellen zur rechtsfremden Ablehnung oder Verzögerung des Anspruchs laden zum Rechtsmissbrauch durch die Gerichte ein, dem oft nur allzu gerne gefolgt wird.

Daher soll zunächst ein handhabbarer Antrag zur Verfügung gestellt werden; auch wenn dessen Formulierung wahrlich keine besondere Leistung ist.

Im Antragsannex soll den Ablehnungstendenzen der Gerichte entgegengetreten werden. Insoweit sind alle Verteidiger zu paste & copy eingeladen.

Folgend wird der Antrag weitergehend erläutert.

II. Anträge

Je nach Verteidigerstil und Verfahrenslage kann der Antrag auf Erteilung der Abschrift und die Ausführung zu den üblichen Verweigerungsgründen gemeinsam mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO gestellt werden, oder auch erst nach  Mitteilung des Gerichtsbeschlusses gem. § 238 StPO.


Ich beanstande die Verfügung des Vorsitzenden vom … und beantrage einen Gerichtsbeschluss gem. § 238 Abs. 2 StPO.

Begründung:

….

Ich beantrage, mir von dem Gerichtsbeschluss eine Abschrift gem. § 35 Abs. 1 S. 1 StPO zu erteilen. Vorsorglich erkläre ich, dass die Abschrift für die Verteidigung in diesem Verfahren benötigt wird.

Höchst vorsorglich teile ich mit, dass entgegen der Auffassung in Meyer-Goßner/Schmitt zu § 35 StPO Rn. 6f. die Abschrift sofort zu erteilen ist und die Erteilung nicht von einem besonderen rechtlichen Interesse abhängt.

Begründung:

Der Anspruch auf eine schriftliche Abschrift ist konkretisiertes Verfassungsrecht, nämlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Es hat den Zweck „dem Betroffenen eine klare, unverrückbare Unterlage für seine weiteren Prozesshandlungen in die Hand zu geben“.
(LR/Graalmann-Scheerer, Rn. 12)

Daher darf der Anspruch auch nicht mit Rückgriff auf die Rechtsprechung des RG beschränkt  oder verzögert werden. Denn erst nach der Entscheidung des RG hat das rechtliche Gehör Verfassungsrang durch die Einführung des GG erhalten. Zudem steht der Rechtsprechung des RG auch eine konventionskonforme Auslegung nach der EMRK entgegen.

Für ein Erfordernis eines gesonderten rechtlichen Interesse gibt der Wortlaut des § 35 StPO nichts her. Auch hier steht die verfassungs- und konventionskonforme Auslegung einer unbenannten Beschränkung entgegen.

Daher ist die Abschrift unverzüglich zu erteilen.

Rechtsanwalt


III. Sinn und Zweck des Antrags

„Den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit hemmen will der Kritizismus des Verteidigers!“

(Max Alsberg, Die Philosophie der Verteidigung, 1930, zitiert nach Jürgen Taschke, Max Alsberg – Ausgewählte Schriften, 1. Aufl. S. 328.)

Es ist bekannt, dass Ideen an Tiefe und Reife gewinnen, wenn man sie schriftlich fixiert. Durch das Niederschreiben werden in der Regel Gedankensprünge und Schwachstellen der Gedanken und Argumentationen offenbar.

Dieses Glückserlebnis will der Verteidiger dem Gericht angedeihen lassen, in der Erwartung, dass die sonst häufig anzutreffenden reflexartigen Ablehnungen der Verteidigeranträge, ohne rechtlichen und intellektuellen Anspruch, vermieden werden können und das Gericht in Erwägung zieht, die Rechte des Angeklagten zu wahren.

Es kann, nein muss, gelegentlich notwendig sein, Richter aus dem System 1* der intuitiven  Entscheidungen hin zu dem System 2* der rationalen Entscheidung zu bewegen.

* Grundlegend zum System 1 und 2: Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, Langsames Denken, 19. Aufl. 2011;
in Bezug auf das Strafverfahren: Prof. Dr. Endrik Wilhelm, Fehlerquellen bei der Überzeugungsbildung,
HRRS 2014, 279 ff.

Das Problem der Verteidigung liegt insbesondere darin, dass die Operationen des Systems 2 mit Anstrengung verbunden sind; eines der Hauptmerkmale des Systems 2 ist aber „Faulheit,  also die Neigung, nur die Mühe aufzuwenden, die absolut notwendig ist“.* Das System 2 ist also  nur schwer zu aktivieren.

* Kahnemann a.a.O. S. 45

Max Alsberg* beschreibt das System 1 des Strafrichters wie folgt:

„Die Weltanschauung des Richters wird von praktischen Erfahrungsergebnissen beherrscht, nicht von den logischen Schlußketten einer abstrakten Theorie. (…).

Mit der Sicherheit, über die nur der verfügt, der die Dinge intuitiv erfasst hat, lehnt er dann auch jede Auffassung ab, die rein aus der Theorie heraus sich im Widerspruch zu seinen praktischen Erlebnissen  setzt.“

* Max Alsberg, Das Weltbild des Strafrichters, 1930, a.a.O, S. 342.

Schließlich dient der Antrag dazu, das Gericht nicht für einen rechtswidrigen Beschluss mit einem Zeitgewinn zu belohnen und ihn damit zu ermuntern, sich auch im Weiteren rechtsfremd zu verhalten.

IV. Die Entscheidung über den Antrag nach § 35 Abs. 1 S. 1 StPO

1.) Regelungszwecke des § 35 StPO

§ 35 StPO bezweckt die Sicherung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Strafverfahren. Dem  Betroffenen soll es ermöglicht werden, sein weiteres prozessuales Vorgehen zu planen.*

* LR/Graalmann-Scheerer, § 35 StPO, 26. Aufl. 2006, Rn. 1; KK-StPO/Maul, 7. Aufl. 2013, § 35 Rn. 1;
AnwK-StPO/Rotsch, 2. Aufl. 2010, § 35 Rn. 1; BVerfGE 36, 85 <88>; BGHSt 27, 88.

2.) Zuständig

Für die Entscheidung über die Erteilung der Abschrift ist der Vorsitzende Richter zuständig.

3.) Vermeidungsstrategie: Kein Rechtsschutzbedürfnis

Strittig in der Kommentarliteratur ist, ob der Antragsteller ein berechtigtes Interesse für die Erteilung der Abschrift benötigt. Wie so häufig entbehren die rechtsvermeidenden Ansichten jedweder Begründung. Jedenfalls ist dem Wortlaut des § 35 StPO eine ein solches Erfordernis nicht zu entnehmen.

a) Kein Interesse notwendig:

  • KK-StPO/Maul, Rn. 8:
    „Irgendeinen strafverfahrensrechtlichen Zweck muss der Betroffene bei seinem Verlangen auf Aushändigung seiner Abschrift nicht verfolgen; das Gesetz räumt dieses Recht ohne Einschränkung ein.“
  • LR/Graalmann-Scheerer, Rn. 9:
    „Der Betroffene muss sein Verlangen auf Erteilung einer Abschrift und den Zweck, den er damit verfolgt, nicht begründen. Er kann durchaus ein privates Interesse haben, eine Abschrift der Entscheidung für seine persönlichen Unterlagen zu erhalten. Die Erteilung einer Abschrift darf daher nicht von einem Zusammenhang mit strafverfahrensrechtlichen Zwecken abhängig
    gemacht werden.“
  • MüKo-StPO/Valerius, 1. Aufl. 2014, § 35 Rn. 18:
    „Ansonsten muss der Betroffene sein Verlangen nicht begründen und kann auch nur aus privaten Interessen eine Abschrift der Entscheidung fordern. Es bedarf also keines Zusammenhangs mit einem strafverfahrensrechtlichen Zweck. Unzulässig ist ebenso, die Erteilung einer Abschrift wegen Personal- oder Sachkosten abzulehnen.“
  • SK-StPO/Weßlau, 4. Aufl. 2013, § 35 Rn. 10:
    „Der Betroffene braucht für sein Verlangen keinen bestimmten Zweck anzugeben; die Gegenmeinung, die einen Zusammenhang mit strafverfahrensrechtlichen Zwecken für erforderlich hält, findet keine Stütze im Gesetz.“
  • SSW-StPO/Mosbacher/Claus, 2. Aufl 2016, § 35 Rn. 7:
    „Begründet werden muss das Verlangen nach einer Abschrift nicht, sinnvoll muss es ebenfalls nicht sein.“

b) Besonderes Interesse notwendig:

  • KG JR 1960, 352
  • Meyer-Goßner/Schmitt, § 35 StPO Rn. 7:
    „Der Anspruch auf Abschriftenerteilung entfällt, wenn er ohne jeden Zusammenhang mit irgendeinem auch nur entfernt in Betracht kommenden strafverfahrensrechtlichen Zweck geltend gemacht wird“ (ohne weitere Begründung)
    „Auf Erteilung einer Abschrift des Beschlusses, mit dem ein Beweisantrag abgelehnt worden ist, besteht ein Anspruch, wenn er eine längere Begründung enthält (BGH NStZ 08, 110).“
    (ebenfalls ohne weitere Begründung)*
  • KMR/Ziegler, § 35 StPO Rn. 6:
    „Der Anspruch dient der exakten Unterrichtung des Betroffenen und damit zugleich der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs. Daher entfällt er, wenn das Verlangen einer Abschrift in keinerlei Zusammenhang mit irgendwelchen verfahrensrechtlichen Zwecken steht, was eher selten  der Fall sein wird, da der Anspruch ohnehin nur dem Betroffenen zusteht.“

* Im Beschluss des BGH ist mit keinem Wort zu entnehmen, dass die Erteilungspflicht nur dann bestehen soll,
wenn der Ablehnungsbeschluss eine längere Begründung enthalte.

4.) Vermeidungsstrategie: Abschrift ja, aber erst spät(er)

Aus dem Wortlaut des § 35 StPO ergibt sich nicht, zu welchem Zeitpunkt die Abschrift erteilt werden muss. Gleichwohl ergibt sich das aus dem Sinn und Zweck der Regelung.

Hierzu AnwK-StPO/Rotsch, Rn. 6:

„Sie ist unverzüglich zu erteilen. Wer behauptet, während der Hauptverhandlung könne eine Abschrift eines in ihr verkündeten Beschlusses nicht verlangt werden, sofern hierdurch der Gang der Verhandlung gehemmt werde, verkennt Sinn und Zweck der Regelung.“

So auch LR/Graalmann-Scheerer, Rn. 12:

„Die Abschrift muss, damit der Angeklagte in seinen prozessualen Rechten nicht
beeinträchtigt wird, unverzüglich erteilt werden. Zwar kann der Angeklagte nicht verlangen, dass die Sitzung unterbrochen wird, damit ihm die Abschrift der Entscheidung erteilt werde, das Gericht wolle von einem präsenten Beweismittel ( § 245) Gebrauch machen. Jedoch kann der Ansicht nicht beigepflichtet werden, dass während der Hauptverhandlung keine Abschrift eines in ihr verkündeten Beschlusses verlangt werden könne, wenn dadurch der Fortgang der Verhandlung gehemmt werden würde. Einer solchen Auslegung steht der Zweck der Abschrift entgegen, dem Betroffenen eine klare, unverrückbare Unterlage für seine
weiteren Prozesshandlungen in die Hand zu geben. Der Ablehnung von Beweisanträgen kann der Angeklagte ohne schriftliche Unterlage nur schwer entgegen treten; die Beschwerde gegen ein Ordnungsmittel (§ 181 Abs. 1 GVG) ist in der Regel ohne Kenntnis des Protokoll- und Beschlusswortlauts nicht sachgemäß zu begründen. Demzufolge sind alle bedeutsameren Beschlüsse ohne Verzögerung abzusetzen und später dem Protokoll als Anlage beizufügen. Insbesondere darf der Betroffene, der die Erteilung einer Abschrift der Entscheidung begehrt, nicht auf den Zeitpunkt nach der Fertigstellung des Protokolls verwiesen werden, denn dadurch kann er unter Umständen in der Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte beeinträchtigt werden. Bedenken gegen dieses Verfahren bestehen nicht.“

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, …

Abschrift erst mit Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls

Hierzu der Becksch’sche zu KurzKommentar zur StPO (Meyer-Goßner/Schmitt, Rn. 6):

„Ist die Entscheidung in der Hauptverhandlung verkündet worden, so kann die Abschrift erst nach Fertigstellung des Protokolls verlangt werden (RG 44, 53), sofern der Betroffene nicht ein besonderes Interesse an einer früheren Erteilung hat (Mosbacher Miebach-FS 22).“

Differenzierter SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 35 Rn. 9:

„Probleme stellen sich bei länger andauernder Hauptverhandlung, weil das Protokoll, das die Entscheidung nebst Begründung enthalten muss (vgl. § 273 Abs. 1), erst nach deren Abschluss fertig gestellt wird und nur diese Fertigstellung die besondere Beweiskraft des § 274 auslöst (vgl. hierzu auch Mosbacher NStZ-Sonderheft Miebach, 2009, 20 [22]). Einen Anspruch auf Abschriften aus dem Protokoll vor dessen Fertigstellung haben die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich nicht; der Inhalt des Protokolls steht vor dessen Fertigstellung nicht fest. Daraus ist zu folgern, dass eine Abschrift grundsätzlich erst nach Fertigstellung des Protokolls verlangt werden kann, sofern die Entscheidung in der Hauptverhandlung verkündet wurde (vgl. RGSt 44, 53 [54]). Haben die Betroffenen ein besonderes Interesse an einer früheren Erteilung einer (vorläufigen) Abschrift der ablehnenden Entscheidung, etwa weil es für ihr weiteres prozessuales Verhalten auf die Kenntnis des Wortlauts der Entscheidung ankommt oder diese besonders lang ausfällt, ist ihnen bei mehrtägigen Hauptverhandlungen in der Regel nach Ende des einzelnen Hauptverhandlungstages eine Abschrift zu erteilen (vgl. BGH NStZ 2008, 110). Dies gilt für die meisten Beschlüsse, durch die Beweisanträge mit etwas ausführlicherer Begründung zurückgewiesen werden. Es empfiehlt sich daher, alle bedeutsameren Beschlüsse ohne Verzögerung abzusetzen und dem Protokoll als Anlage beizufügen.“

aa) Zunächst verwundern die Ausführungen zum Hauptverhandlungsprotokoll. Die Bezugnahme hierauf ist abenteuerlich. Weder gibt der Wortlaut des § 35 StPO einen solchen Bezug her, noch steht die Norm systematisch in Verbindung mit dem Hauptverhandlungsprotokoll.

Zudem gibt es einen eigenständigen Anspruch auf Erteilung einer Abschrift des (fertigen) Protokolls, so dass eine weitere gleichförmige Regelung in § 35 StPO überflüssig wäre.

Viel mehr spricht dafür, dass der Gesetzgeber mit dem Wortlaut des Abs. 1 bezweckt hat, dass die in Satz 2 erwähnte Abschrift sich auf die in Satz 1 erwähnte Entscheidung bezieht.

bb) Noch überraschender ist aber, dass die rechtsbeschränkenden Kommentatoren sich insbesondere auf die Entscheidung RG 44, 53 beziehen.

Wie bereits erwähnt regelt § 35 StPO eine Konkretisierung zur Gewährung rechtlichen Gehörs. Zur Einschränkenden Auslegung soll die Rechtsprechung des Reichsgerichts helfen.

Da scheint manchen Kommentatoren entgangen zu sein, dass seit der Entscheidung des Reichsgericht in Deutschland nicht unerhebliche politische und rechtliche Neuerungen stattgefunden haben. Nur zur Erinnerung:

  • Die Weimarer Republik wurde mit einem kurzem Intermezzo des Dritten Reichs zur BRD,
  • seit 1949 gilt das Grundgesetz,
  • kurz gefolgt von der EMRK.

Bekanntlich gab es während der Weimarer Reichsverfassung, also im Zeitpunkt der rechtsbeschränkenden RG-Rechtsprechung, keinen Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieser wurde erst mit dem Grundgesetz eingeführt.*

* Grabenwarter/Pabel in Grote/Marauhn, EMRK/GG – Konkordanzkommentar; 1. Aufl. 2006, Kap. 14 Rn. 6

Die Rechtsprechung des Reichsgerichts hat sich also durch Gesetzesänderung überholt. Die reichsbürgerliche Ignoranz mancher Richter und Kommentatoren demgegenüber muss befremden.

Deswegen ist auch die „vermittelnde“ Ansicht abzulehnen, die sich ebenfalls am Reichsgericht labt. So z.B. SSW-StPO/Mosbacher/Claus, § 35 Rn. 8:

„Die Abschrift ist dem Betroffenen so schnell wie möglich zu erteilen. Der Betroffene hat indes keinen Anspruch darauf, dass eine mündliche Verhandlung unterbrochen wird, damit eine Abschrift der Entscheidung hergestellt und ihm überreicht wird (RGSt 44, 53 [54]). Die Hauptverhandlung wird vom Grundsatz der Mündlichkeit beherrscht. Den von einer mündlich verkündeten Entscheidung Betroffenen wird zugetraut, dass sie den Inhalt der verkündeten Entscheidung verstehen und ihr Verhalten danach ausrichten. Das Gesetz gibt den Prozessbeteiligten nicht die Befugnis, Unterbrechungen der Hauptverhandlung dadurch herbeizuführen, dass sie durch Anträge den Erlass von Beschlüssen erwirken und dann durch Verlangen von Abschriften dazu nötigen, die Beschlüsse sofort niederzuschreiben und die Anfertigung von Abschriften zu erzwingen (RGSt 44, 53 [54]).“

Bezeichnend hier der Zirkelschluss in der Argumentation:

  • Unbestritten gilt im Strafprozess der Grundsatz der Mündlichkeit.
  • Der Gesetzgeber hat im Wissen um das Mündlichkeitsprinzip den § 35 Abs. 1 S. 2 StPO eingeführt.
  • Warum deswegen die gesetzliche Anspruchsnorm der Tugend der Mündlichkeit weichen muss, bleibt ein Geheimnis des Kommentators.

V. Verteidigungsmöglichkeit bei verweigerter / verzögerter Erteilung

Wie so oft, ist die Hoffnung auf einen Erfolg in der Revision beschränkt.

Hierzu beispielhaft aus BGH, Beschluss v. 10.10.2007 – 1 StR 455/07 (NStZ 2008, 110):

„Die darauf gestützte Rüge der „Behinderung der Verteidigung” ist gleichwohl unbegründet.
Dabei kann offen bleiben, ob sich das Verhalten des Vorsitzenden nach § 338 Nr. 8 StPO (was eher fern liegt, vgl. LR-Hanack 25. Aufl., § 338 Rn 129) oder nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens beurteilt (vgl. Senat Urt. v. 10. 5. 1995 – 1 StR 764/94).
Das Urteil beruht jedenfalls nicht auf der Weigerung des Vorsitzenden, weil die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs mit dem Urteil auszuschließen ist.“

Die Verteidigung wird alle Mittel in der Instanz aufwenden müssen, die ihm zur Verfügung stehen.

Diese Schwerter sind leider allesamt abgestumpft. Wie so oft, sorgen die Gerichte dafür, dass das Unrecht dem Recht nicht zu weichen braucht!

5 Kommentare.

  • Das Gesetz sieht vor, dass der jeweils Beteiligte eine Abschrift verlangen kann. Auf Verlangen IST (!) ihm eine Abschrift zu erteilen. Verteidigerverhalten scheint für den einen oder anderen manchmal undurchsichtig oder nicht erklärlich zu sein. Gute Verteidigung setzt meines Erachtens eine sorgfältige Planung und Vorbereitung voraus. Da nicht alle Eventualitäten geplant werden können, muss ein Antrag, welcher nicht erfolgreich war in das Gesamtkonzept eingestellt werden, damit immer wieder eine Neubewertung stattfinden kann. Deshalb ist die Verteidigung auf die Verschriftlichung angewiesen, um den Text vor Augen zu haben.
    Das Gericht zwingt sich mit der Verschriftlichung zur Klar- und Bestimmtheit. Es muss sich von nun an daran festhalten lassen. Das dürfte der Hauptgrund dafür sein, weshalb die Gerichte versuchen einer Verschriftlichung aus dem Wege zu gehen: Sie wollen sich nicht festlegen lassen!
    Meines Erachtens ist Verbindlichkeit aber ein maßgebliches Kriterium für Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Warum will sich ein Gericht nicht auf die gleichen Anforderungen einlassen, die es von Anwälten, Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen fordert?
    Was spricht dagegen, die bereits geäußerte Rechtsansicht zu fixieren?
    Das OWiG kennt in § 77 Abs. 2 für Beweisanträge den Ablehnungsgrund „nicht erforderlich“. Die Rspr. geht davon aus, dass dann spätestens im Urteil die Ablehnung zu begründen ist. Hier macht es tatsächlich keinen Sinn eine Abschrift des Beschlusses in der Hauptverhandlung zu fordern, weil darin nur stehen wird, dass die beantragte Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Das ist ein gesetzlich geregelter Ausnahmefall. Für das Verfahren nach der Stopp gibt es eine solche Ausnahme nicht. Deshalb ist es fraglich, ob insbesondere bei einem Strafverfahren mit einem Hauptverhandlungstag die Ausfertigung im Rahmen der Verhandlungsleitung auf den Sitzungsschluss verlegt werden darf.

  • Hallo „Der Leser“,
    der Beitrag ist ja aus der confront – Zeitschrift für aktive Strafverteidigung. Ich gehe davon aus, dass diese Zielgruppe erkennt, was es mit dem Antrag auf sich hat.
    Aus Ihrer Frage höre ich Skepsis heraus, ob ein Angeklagter oder dessen Verteidiger einen Anspruch geltend machen darf, nur weil ihn dieser gesetzlich zusteht. Der Gedanke wird ja auch in der Justiz immer wieder bemüht. Teilweise unter dem Begriff Rechtsmissbrauch oder als Steckenpferd unseres ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht Landau als „Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege“. Dies soll ein ungeschriebenes Grundrecht der Rechtspflege sein, nicht mit Arbeit belästigt zu werden. Grundrechte der Bürger sollen nur solange gelten, als sie der Rechtspflege keine Arbeit machen.
    Ich sehe das anders. Die StPO regelt die Mindestrechte der Angeklagten. Daran haben sich die Richter zu halten. Zugunsten des Angeklagten dürfen sie in der Regel davon abweichen. Der Angeklagte, der von seinem gesetzlichen Recht aus § 35 StPO Gebrauch macht, darf also nicht als Störer, Querulant etc. abgestempelt werden.

  • Interessant wäre für den Leser nun noch, zu erfahren, warum es für den Verteidiger so wichtig ist, eine solche Abschrift zu erkämpfen, zumal sofort – denn über diese nicht ganz unwesentliche Frage scheint der ansonsten so beredte Text zu schweigen.

    • Wenn der Beschluss verkündet ist, dann sollte er auch begründet sein. Da die Begründung zum Zeitpunkt der Verkündung des Beschlusses bereits existieren muss, sollte es ja auch kein Problem sein, die schriftlichen Gründe dem Verteidiger auszuhändigen. Die Begründung ist sofort zu verlangen, denn anders ist eine Reaktion auf den Beschluss schlecht möglich. So sind die schriftlichen Gründe beispielsweise für die künftige Verteidigungsstrategie nach dem abgelehnten Beschluss wichtig (neue Beweisanträge) oder auch wenn gegen den Beschluss die Gegenvorstellung erheben wird. Es ist wohl vergleichbar mit der Begründung einer Revision, welche nicht gelingt, wenn man kein schriftliches Urteil hat und sich ausschließlich auf die mündlich vorgetragenen Gründe beruft. Zuletzt ist es – gerade bei kurzen Begründungen – auch ein Mittel der Überwachung des Gerichts, denn werden die kurzen Gründe ausgegeben, so ist es unstatthaft, die Kurzbegründung später im Bürowege zu substantiieren.

    • Jetzt aber zu Ihrer Frage. Im Beitrag ist ja ausgeführt, dass die Erfahrung zeigt, dass wir Menschen uns tiefer und konkreter mit einer Angelegenheit befassen, als wenn dies nur mündlich oder in Gedanken passiert. Leider hat man den als Strafverteidiger oft den Eindruck, dass Gerichte allzu leicht Anträge der Verteidigung ablehnen und sich um die gesetzlichen Regeln hierbei wenig Gedanken machen. Das sollen sie aber. Das gehört zu einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren dazu.
      Wie der Kommentator Dr. Englert schon geschrieben hat, ist es oder kann es für den Verteidiger wichtig, die konkrete und komplette Begründung für eine Ablehnung zu kennen, um sein weiteres Verteidigerverhalten darauf abzustimmen. Gegebenenfalls muss er sogar einen Befangenheitsantrag stellen, wenn der Richter Angeklagtenrechte grob missachtet. Dieser Antrag muss nach der StPO unverzüglich, also sofort gestellt werden.
      Auch für andere Anträge wie Beweisanträge ist es erforderlich, frühzeitig die richterliche Begründung zu kennen.
      Deswegen soll man die Abschrift erforderlichenfalls „erkämpfen“. Ich finde es eher bedauerlich, dass man hierzu von manchen Richtern gezwungen wird.

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