von Matthias Klein, Rechtsanwalt, Karlsruhe und Gordon Kirchmann, Rechtsanwalt, Wülfrath.

Wenn David auf Goliath trifft, hat er genau zwei Möglichkeiten: Spielt er nach dessen Regeln, wird er verlieren. Ist er bereit, die Regeln der Macht zu brechen, zwingt er den Riesen damit in  die Knie.*

* Malcolm Gladwell, David und Goliath, Die Kunst, das Übermächtige zu bezwingen, 2013.

Anwälte müssen heute mehr können, als Recht und Gesetz. Sie müssen Prozesse verstehen, die im menschlichen Gehirn ablaufen, das eine Entscheidung treffen soll. Den Kampf ums Recht müssen sie am Ende noch nicht einmal gewinnen: Es reicht, wenn dem Richter Zweifel kommen. Dann muss er freisprechen.

I. Recht & Psychologie

1. Was kann Strafverteidigung heute bewirken? Sie kann und muss mehr Psychologie wagen. Sie muss Regeln brechen und für Überraschungen sorgen. Sie muss ausgetretene Pfade verlassen. Ein Verteidiger darf frei, selbstbestimmt und vor allem unreglementiert  agieren.*

* Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, Thesen zur Strafverteidigung, 2. Auflage 2015.

Er darf sich aller verfügbaren Mittel bedienen, um das Gericht zu überzeugen. Verteidigung ist Kommunikation. Nur wer die Psychologie der Kommunikation beherrscht, kann effektiv verteidigen. Verteidigung ist parteilich. Verteidiger sind ausschließlich den Interessen des Mandanten verpflichtet. Und diese Interessen müssen in den Kopf des Richters gelangen. Es ist Aufgabe moderner Strafverteidigung, dem Richter nicht nur die eigene Sicht zu präsentieren,  sondern den Prozess der richterlichen Urteilsbildung nachzuvollziehen und zu beeinflussen.*

* dazu instruktiv: Sommer, Effektive Strafverteidigung, 2013, RN 165 ff.

2. Doch wie geht das? Indem Verteidiger Mittel der modernen Psychologie für ihre Zwecke nutzen. Und warum? Reicht es denn nicht, die Akte und das Gesetz zu kennen? Ganz klar: Nein! Denn strafrechtliche Ermittlungen und der gesamte Ablauf einer Hauptverhandlung richten sich nach der Strafprozessordnung. Konstituiert am 1. Oktober 1879. In diesem Gesetzeswerk und den dadurch vorgegebenen Strukturen und Prozeduren sind Staatsanwälte und Richter systembedingt gefangen. Und mit der Zeit haben Tradition und Rechtswirklichkeit das Ihre getan, um der Konzeption des Gesetzes ein Rollenverständnis des Richters überzustülpen, das den Müttern und Vätern des Gesetzes nicht gewollt haben können. Die Waage der Justitia ist schon lange nicht mehr ausgewogen. Und nicht in jedem Fall sind die Karten neu gemischt.

3. Es gibt wenigstens zwei Methoden, wie ich auf einen Menschen einwirken kann, welcher bereits eine Einstellung zu einem Sachverhalt hat: Überzeugen oder Überreden. Entweder versuche ich, ihn von etwas Anderem zu überzeugen. Eine Überzeugung hat den Vorteil, dass sie länger vorhält. Sie hat den Nachteil, dass Energie aufgewendet werden muss, um der Argumentation zu folgen, diese nachzuvollziehen und letztendlich das mit der bestehenden Einstellung abzugleichen und ggf. sogar zu ersetzen. Überzeugung ist dort eher möglich, wo derjenige, welcher überzeugt werden soll, selbst involviert ist. Da das Gehirn grundsätzlich denkfaul ist, ist diese Aktivierung problematisch.

Nehmen wir als Beispiel den NSU-Prozess. Dem vorsitzenden Richter wird man nicht vorwerfen können, faul zu sein. Jeder Termin wird sicher akribisch vorbereitet. Aber diese Vorbereitung bezieht sich in der Regel nur auf die eigenen Vorurteile und Einstellungen. Das Schwierige beim Überzeugen ist tatsächlich, den zu Überzeugenden zu veranlassen, seine Einstellungen zu hinterfragen.

Wie kann man das erreichen? Der zu Überzeugende muss bereit sein, dem anderen zuzuhören. Das ist im Strafprozess problematisch, weil der Richter von Rechts wegen zuhören muss. Ob er aber tatsächlich (inhaltlich) zuhört, wissen wir nicht. Das Thema „falscher Film“ zeigt deutlich, dass Richter manchmal selektiv zuhören. Gelangt der Verteidiger zum Schluss, dass ihm der Richter gar nicht mehr zuhört, indem er beispielsweise an die Decke starrt oder Kreuzworträtsel löst, hilft möglicherweise ein Befangenheitsantrag.

Überzeugen können wir nur dort, wo die Grundvoraussetzung vorliegt, nämlich die Bereitschaft des Gegenübers wirklich zuzuhören. Wenn das Gegenüber dazu bereit sein muss dann deutet dass nicht auf Freiwilligkeit hin. Ich kann ihn dazu nicht zwingen. Das Gegenüber ist jedoch bereit, mir zuzuhören, wenn ich bspw. eine anerkannte Autorität bin, eine akzeptierte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens (Höneß), wenn ich besonders attraktiv bin (Hofeeffekt; Attraktivität kann man herstellen), u.a. stilsichere und / oder inhaltlich interessante Schriftsätze können Kompetenz signalisieren. Entscheidend ist, dass das Gegenüber aber darauf anspringen muss, ansonsten funktioniert es eben nicht. Man kann auch durch kontradiktorisches Handeln zu Überzeugungen gelangen. Dies aber nur durch einen Umweg. Die erfolgreiche Revision / Beschwerde ist dabei ein gutes Beispiel. „Über Bande“ wird dem Richter gezeigt, dass der revisionsführende Verteidiger doch „mehr auf dem Kasten“ hat.

Ein gutes und einfaches Mittel sind Priming (Bahnung) und Framing (Rahmen). Als einer der Autoren Anfang 2015 beim Amtsgericht Miesbach verteidigen musste, hatte er das große Glück, dass der Verteidiger der vorangehenden Sache seinen Termin überzog und ständig schriftliche Anträge verfasste. Die Richterin war total genervt. Als dann der Vortermin unterbrochen und sein Termin vorgezogen wurde, hat er erst einmal erwähnt, wie schön es sein muss in Miesbach zu leben und zu arbeiten; das Panorama der Alpen (toll!), Ski fahren, alles ländlich-idyllisch. Dem Überschwang (Kontrast zum vorangehenden Verfahren) wollte die Richterin so nicht folgen, also wurde die Ruhrgebietsherkunft hervorgehoben (Assoziation: alles grau). Da konnte sie dann mitgehen: ja eigentlich ist es hier ja schon ganz schön. Um es kurz zu machen: Die Sache kam nie zum Aufruf. Obwohl der Saal wegen der Verzögerung voll mit anderen Anwälten war, wurde ein privates 4-Augen-Gespräch geführt. Sie hat dann zum Fall gesagt, dass das ja alles gar nicht so schlimm sei und man sich ja auch auf eine Einstellung einigen könne, nicht wahr Herr Staatsanwalt (Referendar). Sie hat kurz noch ein paar Argumente für eine Einstellung gefunden, zu denen gesagt wurde, dass sie ihm „die Worte aus dem Mund genommen“ habe und man deshalb nicht mehr wisse, was ich noch mehr dazu sagen soll. So wurde es gemacht, und Ende.

Der Nachteil des Überzeugens ist, dass sich das Gegenüber mit der Sache vollinhaltlich auseinandersetzt, alles erwägt, aber doch zu einem Ergebnis kommen kann, was nicht Verteidigungsziel ist. Dann hat erfolgreiche Überzeugungsarbeit stattgefunden, aber nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Gleichwohl bleibt der Überzeugende – für das nächste Mal – als kompetenter Gesprächspartner in Erinnerung.

Man kann auch versuchen, zu überreden. Das Überreden hat den Vorteil, dass man zu einem schnellen Ergebnis kommt, ohne dass das Gegenüber Denkenergie aufwenden muss. Sie suchen einen oberflächlichen Weg und das Gegenüber ist bereit diesen Weg zu gehen. Der Nachteil besteht darin, dass die getroffene Entscheidung nur oberflächlich wurzelt und auch wieder aufgegeben werden kann; der Entscheider kann sein Verhalten bereits kurze Zeit später bereuen. Die Wahl dieser Vorgehensweise lohnt nur dann, wenn das Gegenüber keine Zeit hat, es sich anders zu überlegen (bspw. 1 Hauptverhandlungstag vor dem AG).

Entweder der zu überredende Richter gibt selbst zu erkennen, dass er auf Nachdenken keine Lust hat, oder aber man eröffnet durch seine Verteidigung ein Problem nach dem anderen, und bietet dann (fast plötzlich) einen einfachen Ausweg an. Hier kann der “erzählende Beweisantrag”* genutzt werden, der die Beweistatsachen, die Zeugen und die Konnexitäten nicht einheitlich, sondern durcheinander vorträgt, so dass das Gericht jede Tatsachenbehauptung auf Vollständigkeit überprüfen muss (es muss viel Energie aufgewendet werden). Das Gericht kann dann mit Wahrunterstellungen arbeiten oder aber man bietet einen  Deal o.ä. als Ausweg an.

* Bernd Wagner, Der erzählende Beweisantrag, confront 2016 Heft2, 6

Wenn der periphäre Weg genutzt wird, dann kann die Anzahl der Argumente entscheidend werden; die Argumente selbst müssen dann gar nicht mehr stichhaltig, tiefgründig oder logisch sein, es reicht sogar eine Scheinlogik. Beim Geschriebenen funktioniert das nicht, dafür benötigt man die Schnelligkeit des gesprochenen Wortes.

II. Emotion und Kognition

1. In der Erfassung des juristischen Geschehens findet keine Emotionalität statt. Schon Martin Luther formulierte die Anforderungen an den idealen Richter und definierte „welchen Sinne es bedarf, der das Amt des Richters und des Schwertes ausüben soll. Er muss Sieger sein über alle seine Leidenschaften, Furcht, Liebe, Gunst, Mitleid, Hoffnung, Ruhm, Leben und Tod. Er muss ganz schlicht die ganze Wahrheit lieben und das gerechte Urteil.“ Gesetzesanwendung wird als mechanischer Prozess verstanden, Entscheidungen als Konkretisierung abstrakter Sätze. Die Formulierung von Gesetzen ist so abstrakt, dass keine Emotionen aufkommen. Emotionalität ist im Juristischen nicht Greifbar, ja, sie ist sogar verpönt. Dieses soeben skizzierte Selbstverständnis juristischer Entscheidungsfindung ist jedoch sehr weit von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zur Steuerung menschlicher Handlungen entfernt. Heute weiß man, dass menschliches Verhalten nicht maßgeblich das Produkt bewusster Denkprozesse ist. Vielmehr war und ist der Mensch geprägt vom Unbewussten. Neurowissenschaftler sind sich heute sicher, dass der Entscheider weder Einfluss noch Kontrolle darüber hat, welche Informationen das Gehirn dem Bewusstsein als  Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stellt.*

* Singer, Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen. In: Geyer (Hrsg.) Hirnforschung und Willensfreiheit 2004, S. 30-45.

Vielleicht haben Sie schon einmal vom Schlagwort „Emotionale Intelligenz“ gehört. Damit soll die Gefühlsbetontheit als rational angesehener Entscheidungen betont werden. Der Prozess der Informationsaufnahme- und Verarbeitung ist somit keinesfalls ein steuerbarer und damit im klassischen Verständnis rationaler Vorgang.

2. Emotion und Kognition sind also fest miteinander verwoben. Diese allgemeine Erkenntnis der Psychologie macht auch vor Gerichtsprozessen nicht halt. Die Überzeugungsbildung und das Urteil des Richters sind durch psychische Vorgänge geprägt, die sich einer Beschreibung oder einer gar nachvollziehbaren Gestaltung völlig entziehen. Aus Sicht moderner Kognitionspsychologie ist die in der Strafprozessordnung festgelegte und in der „Rechtswirklichkeit“ weiterentwickelte Verfahrensweise zur Wahrheitsfindung längst  überholt.*

* Birte Englich in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 26 (4), 2005, 157-159.

Es gibt keine Maschine, die man mit Fakten füttert und die Recht ausspuckt. Empirische Untersuchungen belegen, dass Richter auf dieser Grundlage keineswegs völlig blind urteilen, wie Justitia glauben machen mag. Juristische Entscheidungen unterliegen also denselben psychologischen Urteilseinflüssen, die auch in anderen gesellschaftlich relevanten Entscheidungsbereichen gelten. Die Suche nach Wahrheit unterscheidet sich im Prozess daher nicht von anderen in der Gesellschaft vorgefundenen Überzeugungsbildungen hinsichtlich dessen, was geschehen ist oder nicht geschehen ist, was richtig oder falsch ist. Menschen bewerten Fakten und machen sich ein Bild über das Geschehene. Die psychischen Entscheidungsprozesse, die im Strafverfahren zur Annahme von Schuld oder Unschuld führen, sind also dieselben, die einen betrogenen Liebhaber zur Überführung seiner Partnerin bringen können. Der Einfluss richterlicher Emotionen im Urteil über die Schuld eines Angeklagten und  darauf basierende Strafzumessungsentscheidungen sind von Studien längst belegt.*

* Feigendon & Park Emotion an attributions of legal responsibility an blame,
Law and human behavior, 2006, 30, 143-161.

III. Wahrheit & Methode

1. Die Strategie zur richterlichen Wahrheitsfindung gründet oft in der „richterlichen Erfahrung“, die mit dem Kompliment des „sicheren Judiz“ verbunden wird. Der Richter entwickelt in zahlreichen Fällen seine methodischen Ansätze, um in das jeweils hochkomplexe Gespinst der Beweisaufnahme die Schneise seiner Wahrheit zu schlagen. Der einmal gefundene und als richtig empfundene Weg im Umgang mit der Erhebung und Bewertung  von strafprozessualen Beweisen blendet alsbald alternative Denkansätze* aus.

* cognitive Dissonanz: vgl. Mark Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht, 2005, § 12 Bestätigungsfehler, § 17 Selbstüberschätzung und overconfidence.
Gegenmittel: frühzeitiges Schreiben, anschließend die aufgestellten Thesen wiederholen, wiederholen, wiederholen   arg. ad nauseam!!!

Dass aber schon die Verschiebung winziger Umstände die Gesamtfiguration des Verlaufs einer Beweisaufnahme verändern kann und daher völlig anderes Handeln notwendig macht, entgeht dem Entscheider völlig. Richter lieben es also, selbst erarbeitete simplifizierende Methoden der Entscheidungsfindung durch Ignorieren individueller Besonderheiten aufrechtzuerhalten. Rechtsprechung wird so gesehen zur „Rechthaberei“. Die in der Strafprozessordnung festgelegten Prozeduren sehen ursprünglich eine „Äquidistanz“ des Gerichts zu Anklage und Verteidigung vor. Beide Seiten sollen einer kritischen Kontrolle unterzogen werden.* Das Rollenverständnis vieler Richterinnen und Richter hat sich in der  Praxis jedoch weit von diesem Idealbild entfernt.

* Velten, Fehlerquellen im Hauptverfahren, StraFo 2015, 354-365.

Häufig findet sich sogar ein Schulterschluss mit der Anklage. Die eigene richterliche Aufgabe wird dann in der Überführung des Täters gesehen. Der Richter als Garant für eine effektive Strafverfolgung? Richter als Partei und nicht als Schiedsrichter? Der wissenschaftliche Nachweis von richterlichen Urteilsdisparitäten, von schwer korrigierbaren Einflüssen auf die Be-Urteilung wie Vorurteile, Einstellungen, Sympathien oder Emotionen rütteln gewaltig an den Grundfesten des richterlichen Selbstverständnisses.

2. Von welchen Prozeduren ist die Rede? Im Zivilprozess darf der Richter nur über das entscheiden, was die Parteien ihm vortragen. Der Richter darf gerade nicht selbst ermitteln. Es gilt der so genannte Beibringungsgrundsatz. Die Parteien tragen einen Lebenssachverhalt vor und benennen für die aufgestellten Behauptungen Beweise, beispielsweise die Vernehmung bestimmter Zeugen. Der Richter führt nur auf Antrag einer Partei eine Vernehmung durch. Im Strafprozess ist dies anders. Es gilt der Untersuchungsgrundsatz. Die Ermittlungsbehörden sind nach dem Legalitätsprinzip verpflichtet, von sich aus zu ermitteln, wenn sie von einem kriminellen Sachverhalt erfahren. Und diese Ermittlungen finden im Dunkeln statt. Nicht selten erfährt ein Beschuldigter erst anlässlich der Durchsuchung seiner Wohnung oder seines Unternehmens, dass gegen ihn ermittelt wird. Sind diese Ermittlungen aus Sicht der Behörden abgeschlossen, weil der Sachverhalt „ausermittelt“ und eine Person als „Täter“ ausgemacht ist, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage. Die Anklageschrift reicht sie zusammen mit den Akten beim zuständigen Gericht ein. Dem Richter wird neben der Anklageschrift das „wesentliche Ergebnis der Ermittlungen“ präsentiert. Unter Verwertung der meist polizeilich erhobenen Beweise wird der ermittelte Sachverhalt nun unter einen Straftatbestand subsumiert. Der Richter denkt nun: „So muss es gewesen sein. Statistisch gesehen lehnen Richter nur 0,5% aller Anträge der Staatsanwaltschaft auf Zulassung einer Anklage ab. Meist wegen formeller Fehler. Fast ALLE Anklagen werden also zugelassen, das Hauptverfahren wird eröffnet, der „Beschuldigte“ wird zum „Angeklagten“.

IV. Fehler & Quellen.

1. Richter sind – frei nach Faust – Teil des Teils, der „anfangs alles war“. Sie sind „Teil jener heilsam schaffenden Kraft“, sprich: als Teil des Staates, der das Gewaltmonopol innehat und somit auch das Monopol, Ermittlungen gegen Bürger zu führen. Richter sollen die Schuld des Täters beurteilen. Sie sollen Art und Höhe der Strafe bestimmen. Doch wann ist ein Urteil richtig? Wie entscheiden, worauf hören Richter?

2. Rechtspsychologische Studien mit Fallvignetten haben gezeigt, dass in der Strafzumessung des gleichen Falls deutliche Unterschiede zwischen den an der Studie  teilnehmenden Richtern bestehen.*

* Bliesener/Lösel/Köhnken (Hrsg.), Lehrbuch der Rechtspsychologie, Kapitel 13: Strafrichterliche Urteilsbildung, Ziffer 13.2 m.w.N. zu den einzelnen Studien, hier: Gabriel & Oswald, 2007, S.1252.

Wie kommt es dazu? Welche Variablen beeinflussen also die richterliche Schuld- und Strafzumessung? Viele Untersuchungen weisen darauf hin, dass es auch unbewusste Einflüsse gibt, die beispielsweise auf Vorurteilen* beruhen und die aufgrund gesetzlicher Regelungen  oder ethischer Prinzipien eigentlich nicht vorhanden sein dürften.

* instruktiv: Six/Six-Materna, Vorurteile, Spektrum.de (2000); insbesondere zur „ingroup“ – „outgroup“ Diskriminierung. Zitate und Presseartikel können da gut gegensteuern, wenn sie frühzeitig eingesetzt, verankert werden. Bsp: „Der deutsche Polizist ist der demokratischste der Welt.
Er prügelt ohne auf Geschlecht, Rasse und Religion zu achten
(Dr. med. Kurt Pfeifer,deutscher Pathologe).“

Diese Variablen bezeichnet man als extra-legale Einflüsse. Beispielsweise können im Kopf des Richters vorhandene Vorurteile das Opfer, den Angeklagten oder die Zeugen auf systematische Weise benachteiligen. Dies kann gegen grundlegende Prinzipien des Rechts verstoßen und ein fehlerhaftes Urteil produzieren.

3. Lassen sich nun Richter bei ihrer Strafzumessung im Urteil von der Strafhöhe beeinflussen, die die Staatsanwaltschaft für den jeweiligen Straftäter beantragt? Dies ist ebenfalls untersucht worden. Man hat herausgefunden, dass der Staatsanwalt mit seinem Strafantrag einen Anker für das Urteil setzt. Dies kann* dazu führen, dass sich der Richter diesen Anker assimiliert. Die im Urteil verhängte Haftdauer hinge danach also davon ab,  welches Strafmaß der Staatsanwalt gefordert hat.

* Tversky & Hahnemann, 1982 sowie Englich et. al. (2006), Sommer, Effektive Strafverteidigung,
RN 75 ff. m.w.N.

Kann dies sein? Besonders eindrücklich ist eine Studie einer Sozialpsychologin, von Birte Englich. Untersucht wurde darin der Einfluss parteiischer Zwischenrufer im Gerichtssaal auf das Strafmaß. Das beeindruckende Ergebnis war, dass Urteile selbst durch rein zufällig zustande gekommene Urteilsanker beeinflusst werden können. Sogar ein völlig willkürlich gesetzter Anker st danach geeignet, die Aufmerksamkeit des Richters vor allem auf solche Indizien und Beweise zu lenken, die mit dem Anker kohärent sind. Entscheidungsprozesse werden also signifikant beeinflusst von Informationen, die völlig unabhängig vom entscheidungsrelevanten Prozess kurz zuvor vom Entscheider aufgenommen worden sind. Daher muss die Verteidigung den ersten Anker setzen. 

4. Ein anderer interessanter Effekt sind die so genannten Rückschaufehler, auch  „Handsight Bias“ genannt.*

* Fischoff, 1982; Pohl, 2004.

Man versteht darunter das Phänomen, dass Personen die Wahrscheinlichkeit des Ausgangs einer Handlung anders beurteilen, je nachdem, ob sie den Ausgang prognostizieren müssen oder den Ausgang einer Handlung also kennen. Richterliche Entscheidungen sind für diesen Effekt besonders anfällig. So muss zum Beispiel bei der Entscheidung über die Fahrlässigkeit einer Handlung geklärt werden, ob der Angeklagte die Folgen seines Handelns hätte voraussehen können. Um zu einem fairen Urteil zu gelangen, müsste der Richter nun sein Wissen über den tatsächlichen Ausgang der Handlung zu ignorieren versuchen. Er müsste sich vielmehr fragen, was der Angeklagte über die verschiedenen Handlungsausgänge tatsächlich hätte wissen müssen und ob er den Schaden hätte vermeiden können.* Das geht in der Praxis  meistens schief.

* Oswald in: Lehrbuch für Rechtspsychologie, a.a.O., S. 246.

5. Bei der richterlichen Entscheidungsfindung für ein Strafurteil geht es vor allem darum, die Informationen anhand der Ermittlungsakten und der Aussagen der Prozessbeteiligten vor Gericht abzuwägen, diese Informationen also als schuldmindernd oder schulderschwerend zu bewerten. Dies wiederum setzt voraus, die Informationen zu erkennen, zu gewichten und in einer einem Gesamtabwägung zusammenzufassen.

Das so genannte Story-Modell* geht davon aus, dass Richter aktiv versuchen, eine oder  mehrere Geschichten über das Tatgeschehen zu konstruieren.

* Pennington & Haste (1981, 1986, 1992).

Bei der Konstruktion suchen sie vor allem nach den Zielen und Motiven der Tatbeteiligten und füllen bestehende Lücken durch hypothetische Annahmen. Indizien und Beweise müssen wie bei einem Puzzle in eine zeitliche Abfolge gebracht werden. Der Richter nutzt dabei drei verschiedene Arten von Information: Zunächst die mit dem Aktenmaterial und der Hauptverhandlung vermittelten Indizien und Beweise. Dann das Wissen über ähnlich gelagerte Fälle. Und schließlich das Megawissen darüber, was eine komplette Fallgeschichte ausmacht. Je vollständiger, plausibler und eindeutiger eine Geschichte das Tatgeschehen erklären kann,  umso größer das Vertrauen des Richters in die Korrektheit seines Urteils.

* Oswald, a.a.O.

Nach dem Story-Modell ist für die Überzeugungskraft einer Geschichte also entscheidend, ob sie aus Sicht des Richters vollständig und kohärent ist. Wenn eine auf diese Weise konstruierte Hypothese schlüssig ist, beginnt der Richter mit dem Hypothesentesten: Beweise, die belastend sind, werden überbewertet und solche, die entlastend sind, unterbewertet. Das Gericht fragt dann nur noch, ob das Beweismaterial die Hypothese plausibel erscheinen lässt, ob also die Indizien typisch sind für eine solche Tat. Richter und Staatsanwälte sind damit keineswegs immun gegen verzerrenden Einflüssen heuristischer Urteilsprozesse. Eine Urteilskorrektur setzt aber die Erkenntnis voraus, dass das eigene Urteil in der beschriebenen unerwünschten Weise beeinflusst und verzerrt werden kann. Es ist Aufgabe des Verteidigers, dem Richter diesen Spiegel vorzuhalten.

V. Behauptung & Beweis

1. Menschliche Wahrnehmung hat nichts mit realitätsgetreuer Abbildung zu tun. Schon die Aufnahme von Informationen werden durch emotions- und interessengeladene Selektionen geprägt. Die Abspeicherung und Verarbeitung von Informationen hängt maßgeblich von individuell geprägten Skripten in der Psyche ab.

2. Richter erhalten alle Informationen über den Fall, den sie erst noch be-urteilen sollen, zuerst von der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist aber nun keineswegs die  „objektivste Behörde der Welt“.*

* „Durch die Aufstellung des Legalitätsprinzips, durch die dem Staatsanwalt auferlegte Verpflichtung, in gleicher Weise Entlastungs- wie Belastungsmomente zu prüfen, durch das ihm eingeräumte Recht, Rechtsmittel zugunsten des Beschuldigten einzulegen, u.s.w. könnte ein bloßer Civiljurist zu der Annahme verleitet werden, als wäre die Staatsanwaltschaft nicht Partei, sondern die objektivste Behörde der Welt. Ein Blick in das Gesetz reicht aber aus, um diese Entgleisung als solche zu erkennen. Es genügt der Hinweis auf § 147 GVG: ‚Die Beamten der Staatsanwaltschaft sind verpflichtet, den dienstlichen Anweisungen ihrer Vorgesetzten nachzukommen.'“ – Vortrag im Berliner Anwaltsverein am 23. März 1901, 1,
DJZ 1901, S. 179-182 (180 l.Sp.)

Sie tut nur so als ob. In der Praxis lässt die Staatsanwaltschaft fast ausschließlich durch die Polizei ermitteln. Es gibt in Deutschland keinen Ermittlungsrichter, der die Ermittlungen mit richterlicher Unabhängigkeit leitet. herein des Ermittlungsverfahrens ist die Staatsanwaltschaft. So steht es im Gesetz. In Frankreich beispielsweise ist dies anders.

Statistisch gesehen* kommen auf einen Staatsanwalt, der 1000 Ermittlungsverfahren im Jahr bearbeiten muss, 30 Polizisten, die für ihn ermitteln. 

* http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Das_Verhaeltnis_von_Gericht_Staatsanwaltschaft_und_Polizei_im_Ermittlungsverfahren.pdf?__blob=publicationFile

Polizisten wiederum vernehmen nur die Zeugen ausführlich, die den „Täter“ belasten und die Ermittlungshypothese stützen. Dies ist nun mal ihr Job. Sie wollen ihrer Auftraggeberin, der Staatsanwaltschaft, „das Skalp des Täters“ präsentieren. In der Praxis ist also mitnichten die Staatsanwaltschaft, sondern die Polizei Herrin des Ermittlungsverfahrens. Die polizeilichen Vernehmungsprotokolle – und dies ist eine grundlegende Verteidigererfahrung – geben in vielen Fällen nicht den Wortlaut der Vernehmung wieder. Sie geben das wieder, was der polizeiliche Ermittler hören wollte. In den seltensten Fällen gibt es Wortlautprotokolle oder eine audiovisuelle Dokumentation der Vernehmung. Möglicherweise wird sich dies bald ändern. Der Bundestag hat eine Expertenkommission eingesetzt, die ihren Bericht am  13.10.2015 vorgelegt hat und zahlreiche Änderungen der Prozeduren vorgeschlagen hat.*

* https://www.bmjv.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2015/20151013_Abschlussbericht_Reform_Strafprozessrecht.html?nn=1468620.

3. Richter erhalten also die erste Information über den von ihnen zu beurteilenden Fall aus den Ermittlungsakten. Sie lesen die polizeilichen Vernehmungsprotokolle. Diese stützen – natürlich – die These der Anklage. „So kann es gewesen sein“ denkt der Richter. Hier ist es wieder, das Dogma, das sich jetzt im Kopf des Richters festsetzt. Die in der Anklage aufgestellten Thesen, das zuvor Gelesene, wollen Richter dann in der Hauptverhandlung bewusst oder unbewusst bestätigt sehen. Daran, an dieser Hypothese, richten sie die Leitung der Hauptverhandlung und die Vernehmung der Zeugen aus. Aus einem: „So KANN es gewesen sein“ wird unbewusst ein Imperativ:  „So IST es gewesen!“.

4. Ein Staatsanwalt, der Anklage erhoben hat und ein Richter, der das Verfahren eröffnet hat, hält die Verurteilung des Angeklagten für überwiegend wahrscheinlich. Sonst hätte die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen müssen. Neue Informationen und Beweise und letztlich jede Alternative, die die Verteidigung in der Hauptverhandlung präsentiert, stören die Bestätigung der Ermittlungshypothese. Verteidigung wird im Kopf des Richters schnell als  „Nichtanerkennung der Autorität“, ja sogar als „Kränkung der Macht“ empfunden.

* Velten, a.a.O.

Der Angeklagte muss also den Kampf mit gleich zwei Riesen aufzunehmen: Dem Staatsanwalt als Anklagebehörde und dem Richter, der die Anklagehypothese in der Eröffnungsentscheidung als zutreffend übernommen hat. Der Verteidiger ist nun der einzige Verbündete, der dem Angeklagten jetzt noch verblieben ist.

VI. Faust & Regeln

1. Unser Gehirn verlässt sich bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten auf gespeicherte „Faustregeln“. Die Strategie der Anwendung von Faustregeln wird als „Heuristik“ bezeichnet. Heuristik ist also eine einfache Technik unseres Gehirns, die es ermöglicht, bei komplexen Situationen Entscheidungen unter Unsicherheiten zu treffen. Diese Heuristiken im Kopf des Richters sind aus Sicht der Verteidigung aber gefährlich. Denn Ausgangspunkt jeder richterlichen Entscheidungsfindung ist die in den Ermittlungsakten präsentierte Tathypothese. Der Richter glaubt an das, was er in der Ermittlungsakte gelesen hat. Psychische Vorgänge lassen ihn nach inhaltlicher Bestätigung des Gelesen suchen. Das menschliche Gehirn geht immer den Weg des geringsten Widerstands. Psychologisch lässt sich das unter anderem so erklären: Beim Entscheidungsprozess werden Informationen je nach Reihenfolge der des Eingangs dieser Informationen unterschiedlich zu verarbeitet. Die Theorie von der „kognitiven Dissonanz“ beschreibt allgemeine Strukturen des menschlichen Entscheidens in diesen Situation. Hat sich danach eine Vorstellung von einem bestimmten Geschehen erst einmal gebildet, werden weitere konsistente Informationen intuitiv vermehrt gesucht, tatsächlich wahrgenommen und in ihrer Bedeutung als gewichtig empfunden. Inkonsistente Informationen werden als störend und anstrengend registriert. Der so genannte „Inertia-Effekt“ beschreibt in diesem Zusammenhang die Trägheit des Entscheiders, sich auf neue,  abweichende Informationen einzulassen.*

* Sommer, Effektive Strafverteidigung, 2013, RN 108 ff. m.w. N.

Der Richter glaubt also an die aufgestellte Tathypothese und sucht nach deren Bestätigung. Hypothesenkonforme Informationen bewertet er deshalb als besonders wichtig und hypothesenkonträre Informationen als besonders unwichtig. Diese Bestätigungstendenz ist der gravierendste Fehler bei der richterlichen Entscheidungsfindung. Gleiches gilt so genanten „Primacy-Effekt“. Darunter versteht man die Tendenz des menschlichen Gehirns, den Wert der Information nach dem zeitlichen Input zu gewichten. Der Wert von Informationen wird dabei nicht dem Sachgehalt entsprechend ermittelt, sondern hängt vom Zeitpunkt ab, in dem die Information erfolgt.

2. Es scheint, der Fall ist sonnenklar – und in der Suppe doch ein Haar. Was, wenn sich im ermittelten Sachverhalt Widersprüche und Lücken verstecken? Lücken werden nicht etwa nur verkannt oder übergangen. Nein, sie werden geradezu gefüllt. Und zwar mit ebenso kohärenten Mustern, mit Annahmen, mit Unterstellungen, mit Emotionen, Vorurteilen und mit Erfahrungssätzen. Und besonders oft mit Stereotypen. Ein solches Stereotyp ist beispielsweise die Annahme, diesem Angeklagten sei die Tat zuzutrauen. Leider haben es Richter aber fast nur mit Fällen zu tun, in denen Straftaten begangen worden sind. Fälle, in denen auch typische Verdächtige sich vollkommen harmlos verhalten, begegnen ihnen sehr selten. Die Tatsache, dass die Akten vollständig über die Persönlichkeit des Täters informieren (Registerauszüge, Vorstrafen) fördern die Gewichtung als Stereotyp.

3. Ein weiterer Fehler, der die Beweiswürdigung verzerrt, ist die unbewusste Tendenz,  unvollständige Informationen wie vollständige zu behandeln. Es fehlt also der Blick für Informationslücken. Das Gehirn des Richters will Bestätigung. „So muss es gewesen sein“. – wir erinnern uns an das Dogma, das sich vom „So kann es gewesen sein“ letztlich zum „So ist es gewesen“ wandelt. Was der Richter sieht, hält er dann fälschlicherweise für das, was da ist. Und dies wiederum hat zur Folge, dass dem Richter abstrakt mögliche Alternativhypothesen schlicht nicht einfallen. Am Ende steht also nicht die Wahrheit. Sondern vielleicht nur das, was das Gehirn des Richters als Wahrheit bestätigt wissen will.

VII. Story & Telling

1. Kennen Sie den Film „Die zwölf Geschworenen“? Darin sagt der besonders skeptische Geschworene: „Wir haben einen begründeten Zweifel, und darin liegt eine unschätzbare Sicherheit für unser ganzes System. verstehen Sie, was das heißt? Wir dürfen zweifeln. Unsere Freiheit beruht darauf. Kein Geschworener in diesem Lande darf einen Menschen für schuldig erklären, wenn er nicht sicher ist.“  Die so hehre Idee des Zweifels steht jedoch in krassem Gegensatz zu den Erkenntnissen menschlichen Entscheidungsverhaltens. Zweifeln ist anstrengend. Das Gehirn geht immer den weg des geringsten Widerstands. Markant sind deshalb für den Entscheidet als kohärent empfundene Geschichten. Das Gericht folgt regelmäßig derjenigen Geschichte, die es für plausibel hält.

2. Genau an diesem Punkt muss moderne Strafverteidigung ansetzen. Der passiv abwehrende Verteidiger ist aus psychologischen Gründen in seiner Überzeugungskraft ineffektiv. Denn die Vorgabe einer plausiblen Geschichte durch die Staatsanwaltschaft in der Anklage setzt einen Anker, der durch bloße Negierung kaum zu bewegen ist. Die Verteidigung muss die unbewusst ablaufenden Prozesse im Kopf des Richters stören. Sie muss die aus Hypothesen gebauten Mauern einreißen. Sie muss Lücken und Widersprüche aufzeigen. Und wie geht das?  Mit strategischer Kommunikation. Verteidigung heißt immer: Kommunizieren. Die Kommunikation des Verteidigers ist einseitig und ergebnisorientiert. Sie arbeitet emotional, empathisch und psychologisch versiert.  Der Verteidiger muss – frei nach Goethes – der „ewig regen Kraft“ – hier in Form der Staatsgewalt – die „kalte Teufelsfaust“ des „advocatus diaboli“ entgegen setzen. Der Verteidiger als Mephisto, als Geist, der „stets verneint“, als „Quälgeist der Justiz“. Moderne Strafverteidigung muss stören. Sie muss selbstbewusst und unbequem sein. Und darf Konflikte nicht scheuen. Sie muss die stereotype Lebenslüge des Richters zerstören, die da lautet: „Unschuldige können eine plausible Geschichte der Unschuld vermitteln. Wenn sie es nicht tun, liegt es nahe, dass sie schuldig sind.“ Die Verteidigung muss eine Hypothese in Form einer plausiblen Alternativgeschichte präsentieren und auf diese Weise Denkmuster aufbrechen.

3. Wenn richterliche Überzeugungsbildung im Gericht wie im täglichen Leben hypothesengestützt ist, muss die Verteidigung Alternativhypothesen präsentieren. Sie muss sicherstellen, dass der Richter diese auch wahrnimmt. Und zwar keinesfalls so, dass der Anwalt das Gericht davon überzeugt, dass etwas nicht geschehen ist. Optimal ist die Überzeugungswirkung vielmehr nur, wenn der Anwalt den Richter davon überzeugt, dass sich ein bestimmter Sachverhalt in einer bestimmten Art und Weise ereignet hat oder haben könnte. Nur durch die Präsentation plausibler Alternativgeschichten kann der Verteidiger die festgezurrten Denkmuster Im Kopf des Richters aufbrechen. „Storytelling for Lawyers“ ist Strategie der Stunde, denn das menschliche Gehirn denkt in Geschichten. Und wenn durch die alternative Geschichte auch nur Zweifel aufkommen, genügt dies. Dann muss das Gericht freisprechen – in dubio pro reo.

Good lawyers have an ability to tell stories. Whether they are arguing a murder case or  a complex financial securities case, they can capably explain a chain of events to judges and juries so that they understand them. The best lawyers are also able to construct narratives that have an emotional impact on their intended audiences. But what is a narrative, and how can lawyers go about constructing one? How does one transform a cold presentation of facts into a seamless story that clearly and compellingly takes readers not only from point A to point B, but to points C, D, E, F, and G as well? In Storytelling for Lawyers, Phil Meyer explains how. He begins with a pragmatic theory of the narrative foundations of litigation practice and then applies it to a range of practical illustrative examples: briefs, judicial opinions and oral arguments. Intended for legal practitioners, teachers, law students, and even interdisciplinary academics, the book offers a basic yet comprehensive explanation of the central role of narrative in litigation. The book also offers a narrative tool kit that supplements the analytical skills traditionally emphasized in law school as well as  practical tips for practicing attorneys that will help them craft their own legal stories.*

* Klappentext aus: „Storytelling for Lawyers“ von Philip N. Meyer

VIII. Spuren & Akten

1. Ermittlungsbehörden haben einen systembedingt einen Wissensvorsprung. Sie ermitteln im Dunkeln. Der Betroffene ahnt davon meist nichts. Allenfalls durch eine Durchsuchung erfährt er von Ermittlungen. Die Staatsanwaltschaft hat also gegenüber dem Beschuldigten einen Informationsvorsprung. Daraus entsteht die  Ermittlungshypothese.

2. Verteidigung muss eine alternative Hypothese aufstellen. Dies kann sie aber nur dann effektiv, wenn sie frühzeitig auf den gesetzlich vorgegebenen Informationsvorsprung des Staates Einfluss nimmt. Verteidigung muss Spuren legen. Und zwar in den Akten, die der Richter später lesen wird. Möglichst frühzeitig. Noch im Ermittlungsverfahren. Die Spuren der Verteidigung bestehen in alternativen Denkmodellen. Dies kann der Verteidiger aber nur, wenn sich der Beschuldigte nicht schon geredet hat. Deshalb ist es so wichtig, dass der Beschuldigte bei seiner Vernehmung schweigt. Er weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, was die andere Seite weiß. Er will sich verteidigen, seine Unschuld beweisen. Und redet sich doch immer mehr um Kopf und Kragen. Sein Schweigen darf keinesfalls gegen ihn verwendet werden. Sein Reden aber schon. Was einmal in der Strafakte protokolliert ist, lässt sich später kaum mehr korrigieren.

3. Ermittler stellen Fragen. Immer wieder. Und immer mehr. Fragen an Zeugen und Beschuldigte. Studien haben gezeigt, dass bereits die in einer Frage verwendeten Wörter Einfluss auf die Antwort haben. Suggestion und schlechte Vernehmungsbedingungen, Druck und kriminalistische List tun ihr Übriges, um den vermeintlichen „Täter“ zu überführen. „So MUSS es gewesen sein“, denkt sich der Staatsanwalt. Und erhebt Anklage. „So KANN es gewesen sein“, denkt sich der Richter und lässt die Anklage zu. Ein gefährlicher Teufelskreis beginnt. Mit verheerenden Folgen, wenn sich das Dogma im Kopf des Richters zu einem „So IST es gewesen“ wandelt.

4. Nach der Lektüre der Akte hat also der Richter ein bestimmtes Bild vor Augen, das sich an den zusammenfassenden Formulierungen der Anklage orientiert. Neuronale Zwangsläufigkeiten streben danach, das durch die Vorbelastung entwickelte Bild durch die Beweisaufnahme zu erhärten.

5. Fehler in der richterlichen Entscheidungsbildung kann die Verteidigung nur aufdecken, wenn es ihr gelingt, Kontrollmechanismen im Kopf des Richters in Gang zu setzen. Die mentale Trägheit, die Dominanz des assoziativen Bewerten gegenüber dem Zwang zu dezidierender Rationalität, muss durch „Verteidigungs-Stimuli“ zu „anstrengendem“ Denken überwunden  werden.*

* Sommer, a.a.O., RN 255.

IX. Kontra & Punkt

Litigation-PR, also die Öffentlichkeitsarbeit während eines juristischen Prozesses, ist der strategische Einsatz unterschiedlicher Kommunikationsmitteln, um gezielt auf die Öffentlichkeit einzuwirken. Die Nutzung der Medien für das Strafverfahren hat die Staatsanwaltschaft in der jüngsten Vergangenheit längst für sich als Mittel zum Zweck entschieden. Auch dies war in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen. Die Staatsanwaltschaft beruft sich dabei auf eine Rechtsprechung, die es ihr erlaubt, über ihre Ermittlungen dann zu berichten, wenn ein  „berechtigtes öffentliches Interesse“ besteht.*

* BGHZ 143, 199; Hohmann, Verdachtsberichterstattung und Strafverteidigung, NJW 2009, 881 ff.

Davon macht die Staatsanwaltschaft heute – wie wir alle wissen – rege Gebrauch. Schwerwiegende Rufschädigungen des Beschuldigten werden billigend in Kauf genommen. Die Steueraffäre um Uli Hoeneß, der Vergewaltigungsprozess gegen Jörg Kachelmann und die Festnahme Klaus Zumwinkels vor laufenden Kameras sind nur einige Fälle, die uns allen im Gedächtnis bleiben. Gerade ist eine neue Studie* erschienen, die sich mit der Öffentlichkeitsarbeit von Staatsanwaltschaften in Deutschland beschäftigt und diesen eine Professionalisierung der Pressearbeit, dem Gesetzgeber sogar die Schaffung von  weitreichenderen Eingriffsregelungen in diesem Bereich empfiehlt.

* Kottkamp, Öffentlichkeitsarbeit von Staatsanwaltschaften in der Mediengesellschaft, 2015.

Selbstverständlich muss der Verteidiger medienrechtlich gegen verleumderische Berichterstattung vorgehen, um seinen Mandanten zu schützen. Aber die Medien lieben Gerichtsprozesse. Dass die „vierte Gewalt“ die Öffentlichkeit beeinflussen will und ihr dies auch gelingt, ist eine ebenso banale Erkenntnis wie die Tatsache, dass auch Richter und Staatsanwälte Teil dieser Öffentlichkeit sind. Viele Richter verfolgen die Berichterstattung über „ihren“ Prozess intensiv und berücksichtigen die veröffentlichte Meinung bei der Urteilsfindung. Können mediale Wirkungen des Strafverfahrens also nicht verhindert werden, muss der Verteidiger sie in seine Verteidigungsstrategie mit einbeziehen und gestalten. Dies heißt nun aber gerade nicht, dass Prozesse jetzt nur noch über Medien gewonnen werden. Ziel  jeder Pressearbeit muss die Gewinnung eines „medialen Kontrapunkts“ sein.*

* Sommer, a.a.O. RN 480.

Ob man seinem Mandanten hier rät mit seinem – sofern vorhanden – Bundesverdienstkreuz am Anzug vor Gericht erscheinen, wie dies der ehemalige Bundespräsident Wulff getan hat, ist sicher Geschmacksache. Fakt ist aber, dass sich die „Stimmung“ im Gerichtssaal durch das ruhige und staatsmännische Auftreten von Herrn Wulff sehr schnell zu seinen Gunsten änderte.

X. Reden & Schweigen

Als ich einen amerikanischen Kollegen einmal gefragt habe, was denn der beste Rat sei, den ein Strafverteidiger seinem Mandanten geben könne, antwortete er: „Halten Sie den Mund. Wenn Sie das durchsetzen, haben Sie bereits 90% Ihres Honorars verdient.“

Nicht immer, aber immer öfter gilt: Der Mandant muss schweigen, nicht der Verteidiger. Denn Verteidigung ist Kommunikation.

Mit analytischem Vorgehen mutmaßende Schlussfolgerungen zu kreieren, um dem Richter etwas zu geben, woran er glauben kann – darin besteht die Kunst der Überzeugung, die ihre Wirkung nicht verfehlen wird. Beherrscht der Verteidiger diese Kunst der Achtsamkeit, kann er mehr erreichen. Sein Mandant wird es ihm danken.

XI. Statt eines Nachworts

„Man kann noch so viel in die Waagschale werfen, am Ende entscheidet der Richter. In einem Rechtsstaat gibt es keinen Beruf, der eine solche Machtfülle verkörpert wie der des Richters. Man ist ihm ausgeliefert. Früher war das noch schlimmer, besonders in Amtsgerichten. Da saßen Leute, zu denen die Justizverwaltung schon nach wenigen Monaten hätte sagen müssen: Okay, zum Grundbuchrichter mag es reichen, aber bitte nicht auf die Menschheit loslassen. Doch niemand hat es diesen Leuten jemals gesagt, so blieben sie ihr ganzes Berufsleben lang Richter. Es müsste längst eine Diskussion über die Aus- und Weiterbildung von Richtern geführt werden.“ und er schließt mit den Worten: „Es würde wirklich nicht schaden, wenn Richter wüssten, wie  Erinnerungen funktionieren. Oder wie Entscheidungen entstehen, auch die eigenen.“*

* Sven Thomas in einem Zeitinterview in der Zeit (Zeit Nr. 18/2017 vom 26.04.2017) zum Machtgefüge im Strafprozess.

Dem ist nichts hinzuzufügen!

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