Horst Wesemann, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Bremen

Gerade in sog. Umfangsverfahren vor der Großen Strafkammer neigen die Vorsitzenden Richter*innen immer wieder dazu, an den Anfang einer gerichtlichen Beweisaufnahme nach Vernehmung der Angeklagten den Ermittlungsführer der Polizei als ersten Zeugen zum „Gang des Verfahrens“ zu laden. Erwartet wird ein umfassender Überblick vom Anbeginn des Verfahrens und der Entwicklung mit freier Wiedergabe und Interpretation der jeweils bis dahin angefallenen Ermittlungsergebnisse, im Grunde die mündliche Wiedergabe des wesentlichen Ermittlungsergebnisses. Dem muss die Verteidigung rechtzeitig entgegentreten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Zeugen nach Anbringen eines Widerspruchs nur noch zu den Ermittlungen vernommen werden, an denen sie persönlich beteiligt waren. Den Entwurf eines solchen Widerspruchs füge ich bei.

Dank auch an die Kollegen Roland Rautenberger und Alexander Gellinger, deren Widersprüche ich hier mit eingearbeitet habe

In der Strafsache W.

ist der Zeuge G. als Ermittlungsführer geladen. Die Staatsanwaltschaft bezeichnet ihn als Ermittlungsführer, der über den Gang der Ermittlungen Auskunft geben könne. Der Ladungsverfügung ist zu entnehmen, dass der Zeuge zum „Gang des Verfahrens“ vernommen werden soll.

Es bestehen Bedenken gegen die Vernehmung dieses Zeugen, zu diesem Zeitpunkt und zu diesem Thema.

Ich widerspreche insoweit der Vernehmung. 

Die Anordnung des Vorsitzenden ist rechtswidrig; insofern beanstande ich die Entscheidung und beantrage gerichtliche Entscheidung nach § 238 II StPO.

Eine Vernehmung dieses Zeugen zu einem derartig frühen Verfahrenszeitpunkt stellt einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit des § 250 StPO dar.

Eine Schilderung des Ermittlungsverlaufes über die reinen Tatsachen hinaus muss notgedrungen inhaltlich an Zwischenergebnisse anknüpfen und damit z.B. Inhalte von Zeugenaussagen oder anderen Beweismitteln wie GPS-Daten, Telekommunikationsüberwachung und Videoüberwachung wiedergeben, die erst noch Gegenstand der Hauptverhandlung werden sollen.

Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme bedeutet den Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis und auch dem Augenscheinsbeweis, schreibt also eine gewisse Reihenfolge in der Verwertung der jeweiligen Beweismittel vor. Daher ist das Gericht nach den Regeln der Strafprozessordnung gehalten, zunächst die unmittelbaren, sachnahen Beweise zu erheben. Zwar gibt es nach herrschender Meinung keinen so weitreichenden Grundsatz, dass bei der Beweisaufnahme stets das sachnächste Beweismittel benutzt werden muss, das Gericht muss sich aber grundsätzlich darum bemühen, die unmittelbaren Zeugen zu vernehmen.  

BGH StraFo 2002, 353

Nur wenn das nicht möglich ist, ist auf den Zeugen vom Hörensagen zurückzugreifen und hinsichtlich dessen Aussage die „sorgfältigste Überprüfung“ vorzunehmen.

BGHSt 49, 112, 119

Wenn aber sowohl auf Zeugen mit unmittelbarer Wahrnehmung als auch auf solche vom Hörensagen zurückgegriffen werden kann, dann müssen demnach zunächst die Zeugen mit eigenen Wahrnehmungen vernommen werden, da Gegenstand des Zeugenbeweises nach den §§ 48 ff. StPO die konkreten, subjektiven Wahrnehmungen des Zeugen, also die Wahrnehmung von Tatsachen, hierzu zählen alle Tatsachen, die der Zeuge sinnlich wahrgenommen hat.

Hingegen darf der Zeuge nicht dahingehend vernommen werden, dass er eigene Beurteilungen, Rechtsfragen, Erfahrungssätzen, allgemeine Eindrücken, Schlussfolgerungen, Mutmaßungen oder Wertungen abgibt. Diese haben keinerlei Beweiswert.

Tatsachen zu würdigen, ist ureigenste Aufgabe des Gerichts!

Wenn es Aufgabe der Beweisaufnahme ist, die Überzeugungsbildung von suggestiven Elementen weitgehend freizuhalten, ist es zwangsläufig rechtsfehlerhaft, eine dem Unmittelbarkeitsgrundsatz folgende Rezeption von primären Zeugenaussagen durch vorhergehende polizeiliche Bewertung vorstrukturieren zu lassen.

Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass das Gericht aus irgendeinem Grund daran gehindert sein könnte, zunächst diejenigen Zeugen zu hören, deren Wahrnehmungen näher am Geschehen sind als die des Zeugen.

Eine derartige Vernehmung käme auch der unzulässigen Verlesung des wesentlichen Ermittlungsergebnisses gleich. Es besteht bei diesem Zeugen die Gefahr, dass der Zeuge lediglich die angefallenen Ermittlungsergebnisse interpretiert und eine Zusammenfassung aus Sicht der polizeilichen Ermittlungen berichten wird.

Dies bewirkt was Nr. 126 Abs. 3 RiStBV verhindern will: Hiernach darf den Schöffen das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen nicht zugänglich gemacht werden.

BGHSt 43, 3

Nr. 126 Abs. 3 RiStBV

Die Anklageschrift darf den Schöffen nicht zugänglich gemacht werden. Ihnen kann jedoch, namentlich in Verfahren mit einem umfangreichen oder schwierigen Sachverhalt, für die Dauer der Hauptverhandlung eine Abschrift des Anklagesatzes nach dessen Verlesung überlassen werden.

Das birgt nämlich die Gefahr, dass den Schöffen ihre Fähigkeit zur unvoreingenommenen Würdigung der Beweismittel genommen wird. Allein deshalb könnten die Schöffen wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.

„Referiert der Ermittlungsführer im Rahmen seiner Aussage das Ermittlungsergebnis orientiert er sich regelmäßig an dem durch ihn selbst gefertigten Abschlussbericht; dieser ist wiederum Grundlage für die Anklage und das darin enthaltene „wesentliche Ergebnis der Ermittlungen“. 

Schmidt ,„Der Ermittlungsführer als (Universal-)Zeuge der Anklage?!“ NZWiSt 2014, 121 ff.

Im Rahmen der Hauptverhandlung darf aber nur der Anklagesatz, nicht aber das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen, verlesen  werden (vgl. § 243 Abs. 3 S. 1 StPO).

Die Besorgnis der Befangenheit hat der Bundesgerichtshof bereits im Jahre 1958 angenommen, wenn ein Schöffe vom Inhalt des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen Kenntnis erlangt. Damit sei – so der Bundesgerichtshof – „unmittelbar die Gefahr der Beeinflussung durch die im „Ermittlungsergebnis“ niedergelegte Beurteilung gegeben“; der Senat hebt die weitreichenden Folgen für die Beweiswürdigung hervor, indem er ausführt: „Um den Grundsatz des § 261 StPO uneingeschränkt durchführen zu können, muss schon jede Gefahr dieser Art ausgeschaltet bleiben“.

BGHSt 13, 73 ff

Beachtenswert ist indes eine weitere Passage der Entscheidung, in der darauf verwiesen wird, dass ein Verstoß vor allem dann gegeben sei, wenn dieser durch das Gericht oder den Vorsitzenden veranlasst war. Das Judikat wählt das Wort „Zwar … “ und bringt mit dem vollständigen Satz „ … haben das Gericht und der Vorsitzende nicht durch ein ordnungswidriges Verhalten dazu beigetragen, dass der Schöffe Gelegenheit erhielt, die Anklageschrift in der mündlichen Verhandlung mitzulesen“

BGH aaO

unmissverständlich zum Ausdruck, dass ein Verstoß gegen das Mündlichkeitsprinzip vor allem dann vorliegt, wenn die Kenntnis der Schöffen auf ein prozessordnungswidriges Verhalten des Vorsitzenden zurückgeht. Veranlasst dieser in Ausübung seiner Rechte aus § 238 StPO einen Zeugen, Ermittlungsergebnisse zu referieren, ist nach alledem ein Verstoß gegeben, der über den in der zitierten Entscheidung genannten sogar weit hinaus geht“.

„Erschwerend kommt hinzu, dass der Zeuge „im Gewande der Objektivität gekleidet“ vorträgt.

Er ist der Wahrheit verpflichtet; insbesondere den polizeilichen Zeugen wird – ob zu Recht sei dahingestellt – ein hohes Maß an Vertrauen entgegengebracht. Ist die Beweiswürdigung im wesentlichen Ergebnis noch als „Arbeitshypothese“ formuliert, mutiert sie im Munde des Ermittlungsführers zu „Feststellungen“, wenn dieser regelmäßig ausführt, was er bzw. seine Kollegen „festgestellt“ haben.

Durch den „objektiven Touch“ der Vernehmung wird dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen weit höherer Wert verliehen, als der in der Anklageschrift enthaltenen Darstellung; diese Verfahrensweise geht über das im deutschen Recht kritisch diskutierte „Opening Statement“ weit hinaus, da der Vortrag durch den Staatsanwalt auf den Zeugen verlagert wird, weshalb bei genauer Betrachtung der Vortrag durch den Zeugen einen weit schwerwiegenderen Mangel begründet, als die Verlesung der vollständigen Anklageschrift, das heißt des darin enthaltenen wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen; dies insbesondere auch aufgrund des in der Psychologie bekannten „Inertia-Effekts“, dem folgend die im Laufe einer Beweisaufnahme gewonnene Überzeugung des Gerichts durch die Ergebnisse späterer Beweiserhebungen kaum noch nachhaltig beeinflusst wird. Gerade dies macht deutlich, dass die gängige Praxis vieler Gerichte nicht nur das Strafprozessrecht, sondern in hohem Maße Verteidigungsrechte verletzt und damit die Wahrheitsfindung erschwert“.

BGHSt 43, 3 ff..

„Wird also ein Befangenheitsgrund darin gesehen, dass dem Schöffen das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen durch Verlesung seitens des Staatsanwalts vermittelt wird, muss dies nach alledem erst recht für die hier erörterte gerichtliche Praxis gelten, wobei zusätzlich zu beachten ist, dass die Befangenheit durch den Vorsitzenden provoziert wird, da dieser in Ausübung seiner Sachleitungsbefugnis den Zeugen – ohne sachlichen Grund – zum Vortrag des Ermittlungsergebnisses animiert, weshalb zusätzlich die Besorgnis der Befangenheit betreffend die Person des Vorsitzenden gegeben ist“.

Schmidt aaO S.124

Die Qualität der Zeugin leidet noch an einem weiteren Mangel: Es fehlt erkennbar die alternative Arbeitshypothese. In der Folge besteht die Gefahr, dass allein die polizeiliche Arbeitshypothese vorgetragen wird: „Der Angeklagte ist überführt und der Täter!“

Nicht nur in der einschlägigen polizeilichen Literatur, die den eingesetzten Beamten auch bekannt sein müsste, wird vor einer frühzeitigen einseitigen Hypothesenbildung gewarnt und als Grundregel polizeilicher Ermittlungstätigkeit die Bildung mindestens einer Alternativ-Hypothese gefordert.

Pfister KR 1980, 385, 389; ders. KR 1980, 437, 440; Oevermann/Simm in: Oevermann/Schuster/Simm, Zum Problem der Perseveranz in Delikttyp und modus operandi (BKA-Forschungsreihe Bd. 17; 1985), S. 129, 221; Brisach in: Kube/Störzer/Timm, Kriminalistik ‑ Handbuch für Praxis und Wissenschaft, Band 1 (1992), S. 167, 171; Mörbel in: Kube/Störzer/Timm, Kriminalistik ‑ Handbuch für Praxis und Wissenschaft, Band 1 (1992), S. 669, 679; vgl. auch: Hauptmann, in: BKA [Hrsg.], Aktuelle Methoden der Kriminaltechnik und Kriminalistik (BKA-Forschungsreihe Bd. 32; 1994), S. 185 ff.

Sonst bestehe nicht nur die rechtliche Gefahr einer frühzeitigen Kollision der Ermittlungen mit der Unschuldsvermutung, sondern vor allem die tatsächliche Gefahr, dass die Ermittlungen von dem beherrscht werden, was die Aussagepsychologen Othello-Effekt nennen: Othello suchte nach Beweisen für die Untreue seiner Frau, die ihm aber gar nicht untreu war. Was er vorfand, interpretierte er ausschließlich gegen Sie und beachtete nichts, was ihm gezeigt hätte, dass er sich irrte. In einem bekannten Fall (Harry Wörtz) führte gerade die Einseitigkeit der polizeilichen Ermittlungen zu einem Fehlurteil. Die Wichtigkeit der alternativen Hypothesenbildung wird auch von Richterseite mit Nachdruck herausgestellt.

etwa Prüfer StV 1993,6 102,603

Wie sehr die alternative Hypothesenbildung sogar Allgemeingut außerhalb polizeilicher Schulungen geworden ist, zeigt eindrucksvoll Umberto Eco’s berühmter Roman „Der Name der Rose“. Darin lässt Eco den Benediktiner-Novizen Anselm von Melk auf die Frage seines Meisters William von Baskerville, ob er gelernt habe, wie ein Kriminalfall zu lösen sei, antworten: „Wenn ich eins gelernt habe, Meister, dann habe ich gelernt, dass ich mindestens zwei Hypothesen aufstellen muss, eine der anderen entgegengesetzt.

Eine derartige alternative Arbeitshypothese gab es von Anfang an nicht im vorliegenden Verfahren

Zu den Falsifizierungstendenzen gesellt sich auf diesem Wege noch das Phänomen der sich überlagernden Erinnerung. Die Realität in den Gerichtssälen produziert daher regelmäßig eine Erinnerung des Polizeibeamten, an seine Aktenlektüre wenige Stunden oder Tage vor seiner Zeugenvernehmung. Im besten Falle führt diese Art „Vorbereitung“ dazu, dass der Zeuge nicht mehr zwischen unmittelbarer Erinnerung an das Geschehen einerseits und die Lektüre des niedergelegten Berichts andererseits unterscheiden kann.

Schließlich stellt die Vernehmung des Ermittlungsführers als 1. Zeuge zum Gang des Verfahrens einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahren aus Art. 6 EMRK dar und verletzt die Verteidigungsinteressen. Im Rahmen des fair-trial ist besonders zu beachten, dass bei der einleitenden Vernehmung des Ermittlungsführers nicht nur ein „Belastungszeuge“ als „Speerspitze“ vorangestellt wird, sondern – wie bereits ausgeführt – die Bewertung von Ermittlungsergebnissen mit der Tarnkappe der Objektivität versehen wird.

Einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens stellt diese Vernehmungspraxis auch deshalb dar, weil das Beweisthema, der „Gang der Ermittlungen“, derart unbestimmt ist, dass der Verteidigung eine genügende Vorbereitung unmöglich gemacht wird.

Hilfsweise wird beantragt, den Zeugen „Ermittlungsführer“ anzuhalten, nur von Ermittlungen zu berichten, an denen er persönlich teilgenommen und Wahrnehmung gemacht hat.

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