RG 44, 53 – Feriensenat,
Urteil v. 29.06.1910 g.C. II 650/10 (LG I Berlin)

Die Entscheidung ist hier im Volltext aus der amtlichen Sammlung wiedergegeben. Zur Abschrift nach § 35 StPO gibt es sonst scheinbar keine Rechtsprechung, so dass die Entscheidung stilprägend für die Auslegung ist. Dies zu Unrecht, wie im Beitrag von  Petzold* in diesem Heft dargelegt ist.

* Petzold, Verlangen einer Abschrift der Gerichtsentscheidung nach
§ 35 Abs. 1 S. 2 StPO

In der Sammlung ist die Entscheidung mit folgender Überschrift versehen:

„Ist Abschrift eines in der Hauptverhandlung verkündeten Beschlusses auf Verlangen schon während der Hauptverhandlung zu erteilen?“

Aus den Gründen:

Am letzten Verhandlungstage ist auf zahl-reiche Anträge ein Beschluß verkündet, der sieben Nummern enthält und im Protokoll etwa eine und eine halbe Seite umfasst. Der Verteidiger beantragte, ihm eine Ausferti-gung dieses Beschlusses zu erteilen und zwar noch während der Sitzung vor dem Beginn der Schlußausführungen und -Anträge.

Die Strafkammer beschloß, dem Antrage werde stattgegeben werden, sobald der Beschluß endgültig durch Abschluß des Protokolls niedergelegt sein werde, zurzeit sei das Gericht dazu nicht in der Lage, weil ein abgeschlossenes Protokoll und damit eine unabänderliche Fassung des Beschlusses nicht vorliege.

Nach den Ausführungen und Anträgen der Prozeßbeteiligten hat der Verteidiger vor Verkündung des Urteils seinen Antrag wiederholt.

Der Antrag ist „aus den mitgeteilten Gründen“ zurückgewiesen.

Der Rechtsanwalt Dr. A behauptet in der schriftlichen Revisionsbegründung, das Gericht sei sich völlig darüber im Unklaren gewesen, weshalb die Verteidigung einen Anspruch darauf habe, genau darüber aufgeklärt zu sein, aus welchen Gründen das Gericht zu einer Ablehnung der Beweis-anträge gekommen sei. Er hält den Ableh-nungsgrund der Strafkammer für ganz unverständlich und findet in dem Vorgehen des Gerichts zweifelslos eine schwerwie-gende Beschränkung der Verteidigung.

Die Beschwerde ist unbegründet und wird durch die Schärfe des Ausdrucks nicht haltbar.

Die Vorschrift des § 35 Abs. 1 StPO bestimmt im ersten Satze, daß Entscheidungen, die in Anwesenheit der davon betroffenen Personen ergehen, ihr durch Verkündung bekannt gemacht werden, und im zweiten Satze: Auf Verlangen ist ihr eine Abschrift zu erteilen.

Beschlüsse, welche in der auf dem Grundsatz der Mündlichkeit beruhenden Hauptver-handlung erlassen werden, brauchen nicht, wie die Urteilsformel (§ 267 StPO), durch Verlesung verkündet werden. Die mündliche Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts genügt. Den von ihnen betroffenen Personen wird zugetraut, daß sie den Inhalt verstehen. Unterschiede nach Inhalt oder Umfang werden im Gesetze nicht gemacht. Die Beschlüsse müssen in das Protokoll aufge-nommen werden (§ 273 StPO). Sie sind ein Teil des Protokolls.

Solange diese nicht von dem Vorsitzenden und dem Gerichtsschreiber vollzogen ist, bildet ihre Niederschrift einen Entwurf, der der Abänderung unterliegt, sei es, weil das Niedergeschriebene mit dem Verkündeten nicht übereinstimmt, sei es, weil die Form verbesserungsbedürftig ist. Erst mit der Vollziehung des Protokolls, und zwar des ganzen Protokolls oder des betreffenden Teils der Verhandlung, entsteht ein Beschluß in Schriftform, dessen Abschrift ausführbar ist.

Das Gesetz gibt den Prozeßbeteiligten nicht die Befugnis, in einem nicht zu ermessenden Umfang Unterbrechungen der Hauptver-handlung dadurch herbeizuführen, daß sie durch Anträge den Erlaß von Gerichts-beschlüssen erwirken und dann durch Verlangen von Abschriften dazu nötigen könnten, die Beschlüsse sofort nieder- zuschreiben und die Niederschriften zur Anfertigung der Abschriften an die Kanzlei
zu schicken.

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